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Medizin und Knast

Quellen und Empfehlungen

Unter den folgenden Quellen sind viele, die als Quelle für die jeweiligen Beiträge auf dieser Website gedient haben und darüber hinaus weitere Empfehlungen, wie z.B. Podcasts.

Straf- und Gefängniskritik

Artikel
Podcasts
Bücher
  • „Was macht uns wirklich sicher“, Hg. Melanie Brazzell 2019 
    • „Einleitung: Was ist staatliche Gewalt?“ von Nadija Samour
    • „We look out for each other. Für eine Welt ohne Polizei“ von Daniel Lock
  • „Strafe und Gefängnis“, Hg. Rehzi Malzahn 2019 
    • „Wir werden gedacht haben, man könne ohne das Gefängnis nicht auskommen. Zum Verhältnis von „Alternativen“ und Utopie.“ von Johannes Spohr
    • „Das konservative Prinzip der Gefängnisstrafe und die Erhaltung der Ordnung“ von Bernhard Stoevesandt
    • „Armut und Strafe. Über die Produktion von Delinqenzmilieus und das Gefängnis als Armenhaus“ von KNAS
  • „Hass“ von Şeyda Kurt 
    • kurze Einführung zu Abolitionismus (S. 159-166)

Rassismus und Knast 

Trans* im Knast

Elternsein und Schwangerschaft im Knast 

Medizinische Versorgung im Knast 

Palliativ im Knast

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Medizin und Knast

Straf- und Gefängniskritik

TW: In diesem Text geht es um staatliche Gewalt, Strafvollzug in Deutschland, Armut, Leben ohne festen Wohnsitz und Rassismus.

Abolitionismus und alternative Konzepte

Freiheitsstrafe als die scheinbar logische Konsequenz von Straffälligkeit besonderer Schwere – dieses Konzept ist die etablierte gesellschaftliche Sichtweise. Die Zeit in Haft soll Personen für ihre Strafdelikte bestrafen, eine Art Gerechtigkeit wiederherstellen, die Gesellschaft schützen, abschreckenden Charakter aufweisen und – als von den Justizvollzugsanstalten ausgewiesenes Hauptziel – zur Resozialisierung Inhaftierter dienen.

So normal wie vielen dieser Bestrafungsansatz wohl erscheint, so wenig wird er hinterfragt. Machen Gefängnisse unsere Gesellschaft wirklich sicherer? Bietet das vorherrschende Strafkonzept ehemaligen Inhaftierten die Möglichkeit nach Entlassung ein selbstbestimmtes Leben ohne Straffälligkeit zu führen?

Im Jahr 2022 waren 42.492 Menschen in Deutschland inhaftiert; die meisten davon im geschlossenen Vollzug (1). Mindestens jede dritte Person davon wird statistisch gesehen in den ersten drei Jahren nach Entlassung erneut straffällig (2). Resozialisierungs- und Präventionserfolge von Haftstrafen scheinen auszubleiben, das momentane Verfahren erweist sich als fraglich (3). Strafromantik ist jedoch tief in unserer Gesellschaft verankert und wird von Medien und in allgemeinen politischen Diskursen reproduziert – es braucht also keine Fakten oder Beweise mehr, damit an die Richtigkeit und Gerechtigkeit der Strafe geglaubt wird.

Zusätzlich wird ein Bild von Gefängnis und Straftäter*innen gezeichnet, das nicht realistisch ist: Hauptsächlich sitzen Menschen z.B. wegen Ersatzfreiheitsstrafen, Drogen- oder Eigentumsdelikten im Gefängnis und nicht Personen, vor denen die Gesellschaft vermeintlich geschützt werden muss.

In Haft wird den Gefangenen jegliche Autonomie genommen, ihr Tagesablauf ist strikt vorgegeben und selbstständige Alltagsorganisation ist nicht möglich. Die Inhaftierten sind struktureller und permanenter Bevormundung und Repression ausgesetzt (4). Haftstrafen können überdies die wirtschaftliche und soziale Existenz der Gefangenen zerstören. Sie verlieren häufig ihre Arbeitsstelle, Verfahrenskosten müssen von den Inhaftierten selbst getragen werden. Zusätzlich sind sie starker Stigmatisierung ausgesetzt, die soziale Beziehungen, die mit eingeschränkten Besuchszeiten und -möglichkeiten ohnehin einer besonderen Belastung ausgesetzt sind, nachhaltig schaden können.

Selbst vergleichsweise kurze Haftstrafen, wie im Rahmen der Ersatzfreiheitsstrafen, bringen Ausschluss aus vorher bestehenden sozialen Kreisen auch über die Zeit der Haftstrafe hinaus mit sich. Besonders gravierend ist die Situation laut einer Studie für Frauen. Sie sind sozialer Ausgrenzung durch Haft stärker ausgesetzt, Lebenspartner trennen sich nach der Haft häufiger von ihnen, als es bei Männern der Fall ist, und die Trennung von eventuellen Kindern belastet sie intensiver (5). Diese Studie wurde binär und heteronormativ durchgeführt. Sie zeigt nicht, dass die Realität in Haft komplexer ist, es mehr Geschlechter als männlich und weiblich gibt und viele Menschen nicht heteronormativ lieben. Diese Personen sind noch stärker von sozialer Ausgrenzung betroffen.

In Anbetracht der fehlenden Wirksamkeit bezüglich Prävention und Resozialisierung des bestehenden Strafsystems und da viele der heutigen Gesetze, Straf- und Einsperrpraktiken sowie die Polizei ihre Wurzeln in Kolonialismus, Sklaverei und in Deutschland im Faschismus haben wird die Notwendigkeit von Alternativkonzepten deutlich. Das staatliche Rechtssystem ist eng an Knast und Polizei gekoppelt – es funktioniert nicht ohne Zwangsgewalt, die es durchsetzt. So muss eine Kritik am Gefängnissystem auch Polizei und Gerichte mitdenken.

Das Konzept des Abolitionismus (lat. abolitio: “Abschaffung”, “ Aufhebung”) kommt aus dem 19. Jahrhundert und wurde in den USA und der Karibik im Rahmen der Bewegung gegen Sklaverei entwickelt. Die Grundidee lässt sich jedoch noch wesentlich früher auf die Haitianische Revolution 1791 zurückverfolgen. Diskriminierung aufgrund soziokultureller Zugehörigkeit ist ein omnipräsentes gesellschaftliches Problem, das sich im Kontext von machtausübenden Institutionen, in Hierarchien und (staatlicher) Gewaltausübung besonders zeigt. Zum Beispiel Schwarze, wohnungslose und drogenabhängige Menschen oder Sexarbeiter*innen, die gesellschaftlich und strukturell marginalisiert werden, sind besonderns von Polizeikontrollen, Kriminalisierung und Knast betroffen. Sie sind von der Gemeinschaft, die durch Polizei und Staat geschützt werden soll, ausgeschlossen und nicht mitgemeint, wenn von Sicherheit gesprochen wird. Durch die Marginalisierung und häufig weniger verfügbare Ressourcen finden die Persepktiven dieser Personen gesellschaftlich keinen Platz.

Daher benennt der Abolitionismus die Implementierung einer Gesellschaftsordnung ohne Ausbeutung und Gewalt als Ziel, ergo lehnt Institutionen, wie die Polizei, sowie das Konzept von Freiheitsberaubung, beispielsweise in Form von Gefängnissen, ab. Da diese Problematik struktureller Natur ist, fordert der Abolitionismus eine Adressierung der Gewaltursachen anstelle der Symptome. In einer Gesellschaft, in der soziale und ökonomische Gerechtigkeit herrscht, würde viel von dem, was wir als Kriminalität verstehen, wegfallen. Nicht nur basiert viel Kriminalisierung auf Eigentum – mehr soziale Absicherung und weniger Ungleichheit würden auch Gewalt reduzieren.

Es gibt jedoch bereits einige Konzepte, die die Ursachen von Gewalt betrachten, den angesprochenen Problematiken begegnen und die teilweise bereits praktisch umgesetzt werden. Ein Ansatz der praktischen Umsetzung von Ideen des Abolitionismus ist die der transformativen Gerechtigkeit. Hierbei soll zum Einen die von Gewalt betroffene Person Unterstützung erfahren und gleichzeitig mit der gewaltausübenden Person gearbeitet werden. Wichtig ist dabei, verschiedene Aspekte des alltäglichen Lebens, wie die häuslichen Strukturen einer Person, Diskriminierung, oder Gesundheitsversorgung, miteinzubeziehen. Dabei ist das Ziel nicht die Utopie einer völlig gewaltlosen Gesellschaft. Stattdessen geht es darum, darüber zu sprechen, dass Gewalt ein Teil unseres Zusammenlebens ist, der sich nicht einfach wegsperren lässt. Der Ansatz bietet einen Weg, Gewalt zu begegnen und sie in der Gesellschaft zu reduzieren (6).

In Norwegen findet das Konzept der “restorative justice” nach Howard Zehr auf freiwilliger Basis Anwendung. Dort gibt es die Möglichkeit für in Konflikt geratene Personen, Mediationen, durchgeführt von Freiwilligen des National Mediation Service, in Anspruch zu nehmen, die Auswirkungen auf den richterlichen Umgang mit dem Strafverfahren haben.

Straftaten werden demnach als Schaden an Menschen und Gemeinschaft anstelle von Konflikten mit “Recht und Ordnung” im Sinne von Gesetzen eines staatlichen Systems gesehen. Der Anspruch ist, kollektiv auf Verletzungen der Gemeinschaft einzugehen und das Ziel einer möglichst großen Gerechtigkeit und guten Gemeinschaft zu verfolgen.

Der National Mediation Service ist dem Department of Civil affairs untergeordnet und ist zuständig für die Organisation und Trainings der freiwilligen Mediator*innen. Die Mediator*innengruppe einer Community soll möglichst divers besetzt sein.
Den freiwilligen Mediationen gehen vorbereitende Gespräche voraus, sodass in der Mediation ein begleiteter Dialog zwischen Täter*innen und Opfern mit Empathie für beide Seiten und der Motivation, Verständnis, Reintegration von Opfern und Täter*innen entsteht um eventuell Verhaltensänderung zu erzielen.
Eine Mediation kann mit einer von allen Seiten unterschriebenen Einigung abgeschlossen werden. Bei erfolgreicher Mediation wird der Fall gerichtlich nur wieder aufgenommen, sollte es zu signifikanten Verletzungen der Einigung kommen. Bei erfolgreicher Mediation ohne Verletzung der Einigung kommt es zu keiner Aufnahme in das Strafregister (7).

Trotz vorhandener Ansätzen von ‘transformative’ und ‘restorative justice’ wird in Deutschland weiterhin an dem derzeitigen Straf- und Gefängnissystem festgehalten. Die Zahlen zeigen, dass der Knast die Lebenssituation der Gefangenen verschlechtert, anstatt Konzepte der Resozialisierung zu verfolgen. Das System, welches Gleichheit und Gerechtigkeit schaffen soll, ist nicht gerecht. Es diskriminiert Menschen, die bereits von Diskriminierung betroffen sind. Eine Verbesserung der derzeitigen Situation scheint aufgrund von fehlendem Interesse Seitens der Politik beinahe utopisch. Doch wenn es Gerechtigkeit geben soll, ist es unausweichlich, sich weiter mit den Ideen zu beschäftigen, die es schon so lange gibt, sie weiter zu denken und für sie zu kämpfen.

Ersatzfreiheitsstrafen: Klassenjustiz in Deutschland?

Während „Spitzenmanager“ wie Ex-Audi-Vorstandschef Ruper Stadler nach Geständnissen zu Betrug in Milliardenhöhe zu Geld- und Bewährungsstrafen verurteilt werden (1), liegt der Anteil der Menschen, die gemäß §43 des StGB aufgrund einer Ersatzfreiheitsstrafe im Gefängnis sitzen, bei 11% (Stand Juni 2022) (2). Das heißt, dass aktuell weit über 4000 Menschen ihre Freiheit entzogen wird, weil sie nicht in der finanziellen Lage sind, Geldstrafen für Bagatelldelikte – wie beispielsweise Fahren ohne gültigen Fahrschein – zu bezahlen.

Geldstrafen werden in Deutschland nach Tagessätzen berechnet, wobei ein Tagessatz einem Dreißigstel des monatlichen Nettoeinkommens entspricht – das soll für eine vermeintliche Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Einkommensschichten sorgen. Vermeintlich, weil die Einschränkungen, die mit beispielsweise 15 Tagessätzen – also einem
halben Monatseinkommen – einhergehen, für Menschen, die an oder unter der Armutsgrenze leben, viel existenzieller sind, als für Menschen mit mittlerem oder hohem Einkommen. Ist eine Geldstrafe „uneinbringlich“, tritt an ihre Stelle die Ersatzfreiheitsstrafe. Je nach Höhe der ursprünglich auferlegten Tagessätze kann sie zwischen einem und maximal 360 Tagen betragen. Bis Juni 2023 entsprach ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe einem Tagessatz. Das wurde nun durch eine Reform des Strafrechts verändert, sodass ein Tag Haft zwei Tagessätzen entspricht (3). Diese Reform verändert jedoch nichts an dem Prinzip der Ersatzfreiheitsstrafe und den Problemen, die damit einhergehen.
Dass eine Haftstrafe nicht dazu beiträgt, dass sich Menschen, die häufig durch Armut und/oder Suchterkrankungen in die Straffälligkeit getrieben wurden, aus ihren prekären Lebenssituationen befreien, ist offensichtlich.
Isolierung von familiären Strukturen und engen Bezugspersonen, sowie Stigmatisierung während und nach der Haft, führen zur weiteren gesellschaftlichen Ausgrenzung (4). 2020 lagen die durchschnittlichen Kosten für einen Tag in Haft bei 157,72€ – ein Vielfaches
des durchschnittlichen Tagessatzes der von Ersatzfreiheitsstrafe betroffenen Menschen (5). So entstehen jährliche Mehrkosten von über 200 Millionen € (Tendenz steigend) – nur 130.000€ werden jährlich hingegen aufgewendet, um Projekte zur Vermeidung von
Ersatzfreiheitsstrafen zu unterstützen (6).
Forderungen nach einer Entkriminalisierung von Bagatelldelikten wie das „Erschleichen von Leistungen“ (§265a StGB), beispielsweise Fahren ohne gültigen Fahrausweis, angebracht von der Bundesfraktion der Linken, blieben bislang erfolglos.

Durch die im Juni 2023 beschlossene Strafrechtsreform soll es, neben dem veränderten Umrechnungsfaktor von Tagessätzen und Tagen in Haft, von Ersatzfreiheitsstrafen betroffenen Menschen einfacher gemacht werden, ihre Strafe durch gemeinnützige Arbeit anstelle von Haft zu absolvieren. Nichtsdestotrotz bleibt Armut und daraus resultierende Straffälligkeit ein Teufelskreis, an dessen Ende Menschen für ihre Armut bestraft werden.
Dies ist ein Symptom des kapitalistischen Systems, in dem auch vor dem Gesetz nicht alle gleich sind.

Quellen

Quellen Abolitionismus und alternative Konzepte

[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/haftbedingungen-in-deutschland-haft-ist-nicht-gleich-haft-1.3117627

[2] https://www.bmj.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Legalbewaehrung_strafrechtliche_Sanktionen_Kurzbroschuere.pdf?__blob=publicationFile&v=8

[3] https://taz.de/Sinn-und-Unsinn-von-Gefaengnissen/!5723494/

[4] Klaus Roggenthin: Das Gefängnis ist unverzichtbar! Wirklich?

[5] https://www.jura.fu-berlin.de/fachbereich/einrichtungen/strafrecht/lehrende/morgensternc/blog-sq-feministischeperspektivenaufrechtstheorieundpraxis/_Bestraft-fuers-Armsein__-_-Die-Kontroverse-um-die-Ersatzfreiheitsstrafe/index.html

[6] https://www.deutschlandfunkkultur.de/philosophie-des-abolitionismus-gewalt-nicht-mit-gewalt-100.html

[7] https://violenceagainstchildren.un.org/sites/violenceagainstchildren.un.org/files/expert_consultations/stranghtening_communities/field_visit_presentationkaren_kristin_paus_mediation_service.pdf

Quellen Ersatzfreiheitsstrafe

6 https://dserver.bundestag.de/btd/20/015/2001568.pdf; 07.07.2023. 14 Uhr
5 https://dserver.bundestag.de/btd/20/015/2001568.pdf; 07.07.2023. 14 Uhr
4 https://www.jura.fu-berlin.de/fachbereich/einrichtungen/strafrecht/lehrende/morgensternc/blog-sq-feministischeperspektivenaufrechtstheorieundpraxis/_Bestraft-fuers-Armsein__-_-Die-Kontroverse-um-die-Ersatzfreiheitsstrafe/index.html#_ftn5; 07.07,2023 14 Uhr
3 https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/geldstrafen-freiheitsstrafen-100.html; 07.07.2023
2 Statistisches Bundesamt; 07.07.2023 11:00 Uhr
1 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/audi-stadler-landgericht-urteil-diesel-skandal-100.html;
07.07.2023 11:58 Uhr

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Medizin und Knast

Elternsein und Schwangerschaft im Knast

TW: Im folgenden Text geht es unter anderem um (sexualisierte) Gewalt, Kindstod und Schwangerschaftsabbruch. Wenn du im Moment nicht in der Lage dazu bist, damit umzugehen, dann lies diesen Text (jetzt grade) besser nicht. Überleg dir, ob du den Text besser nicht allein, sondern in Gesellschaft von Bezugspersonen lesen möchtest.
Für die einzelnen Abschnitte findest du Triggerwarnungen spezifisch nochmal am Anfang des jeweiligen Themas, damit du diese bei Bedarf gezielt überspringen kannst.

Unterstrichene Begriffe werden im Glossar am Ende des Texts erläutert.

Das deutsche Strafsystem baut auf dem binären Geschlechtersystem auf. Da aber nicht alle gebärenden Personen und schwangere Personen Frauen sind, haben wir in unserem Text weitestgehend darauf verzichtet, von Frauen als betroffene Gruppe dieser Thematik zu sprechen. Stattdessen verwenden wir schwangere und gebärende Person.

Gynäkologische Untersuchungen während der Schwangerschaft erst nach Betteln, Entbindung in der JVA oder in Fesseln, kaum Besuchsrechte für dein Neugeborenes: Realitäten von Schwangeren und Gebärenden im Knast.
Schwangerschaft und Gefängnis: Zwei Themen, die so fern voneinander scheinen, es aber nicht sind. Etwa 6% aller Inhaftierten in Deutschland sind im Frauenvollzug. Der Großteil stellt keine Gefahr für die Öffentlichkeit dar: sie sitzen wegen Eigentumsdelikten, Betrug, Drogen oder Fahren ohne gültigen Fahrschein. Man könnte denken, Schwangerschaften und Geburten hinter Gittern wären eine Seltenheit.
Laut Schätzungen kommen jedoch etwa 60 Kinder pro Jahr in Deutschland im Vollzug zur Welt. Problematische Zustände, föderalistische Ungerechtigkeit und unambitionierte Besserungsversuche sind nicht nur in Bezug auf Schwangerschaften und Geburt verbreitet im deutschen Strafsystem, sondern auch hier nicht wegzudenken und vor allem: nicht zu ignorieren.
Menschen im Frauenvollzug haben selbst psychische, physische, sexualisierte Gewalt erfahren. Etwa dreimal mehr als Frauen in der Gesamtgesellschaft. Der Staat hat eine besondere Fürsorgepflicht – er ist verantwortlich. Dieser Verantwortung wird er jedoch in den seltensten Fällen gerecht.
So ist etwa ein hohes Risiko für Retraumatisierung der Schwangeren bei gynäkologischen Untersuchungen von meist männlichem Personal allseits bekannt. Besondere Fürsorge oder zumindest die gleiche wie die der Menschen außerhalb ist durch die fehlende Umsetzung des Äquivalenzprinzips (Stichwort freie Ärzt*innenwahl) nicht annähernd gewährleistet.
Geburt mit Fußfessel und Beamt*innen im Raum ist Lebensrealität.
Auch nach der Geburt gibt es Kapazitätsprobleme: eine gemeinsame Unterbringung von gebärender Person und Kind ist deutschlandweit in insgesamt 8 JVAs mit zusammen 93 Plätzen möglich. Die Regelungen und Möglichkeiten für Geburtsvor- und nachsorge, sowie die Unterbringung von gebärender Person und Kind sind Ländersache. Das heißt 16 verschiedene Umgangsweisen mit einer der persönlichsten Erfahrungen, die ein Mensch überhaupt machen kann. Es ist also „Glückssache“, wie mit dir umgegangen wird.
Stress, außergewöhnliche Umstände, Ernährung, biografische Vorbelastung, Unsicherheit, unzureichende medizinische Betreuung und viele weitere Faktoren machen Schwangerschaft hinter Gittern und Geburt mit Fesseln zu einer fast unzumutbaren Erfahrung.
Wie wenig das Thema Schwangerschaft und Geburt im Knast in der Öffentlichkeit stattfindet, zeigt auch die Tatsache, dass es keinerlei Erfahrungsberichte von schwangeren Personen bezüglich eines Schwangerschaftsabbruches in Haft gibt. Auch Informationen über die grundsätzlichen Rechte und Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen im Knast sind nicht zu finden! Einmal mehr verdeutlicht dies, wie mangelhaft die Auseinandersetzung der Strafjustiz mit medizinischen Grundrechten von inhaftierten Menschen stattfindet.

Der besondere Schutz von Familie und Mutterschaft ist ein Grundrecht (Art. 6 GG), das auch allen schwangeren Personen in Haft zusteht. Schwangere Personen im Strafvollzug haben laut Gesetz (§ 76 StVollzG) die gleichen Ansprüche auf medizinische Versorgung, z.B. Früherkennungsuntersuchungen oder regelmäßige ärztliche Kontrolltermine, wie schwangere Personen in Freiheit.
Die Geburt von Kindern inhaftierter Personen sollte in einem Krankenhaus außerhalb des Vollzugs stattfinden. Ist die Verlegung in ein externes Krankenhaus jedoch aus Gründen der Sicherheit oder aus vollzuglichen Gründen, wie erheblichen Mehrkosten oder der fehlenden Möglichkeit der Bewachung, nicht möglich, erfolgt die Entbindung in einer Vollzugsanstalt mit Entbindungsabteilung. Während der Entbindung sind bei gebärenden Personen im geschlossenen Vollzug Beamt*innen im Kreißsaal anwesend, bei Personen mit Haftlockerung warten diese vor der Tür. Frauenvollzugsanstalten müssen laut § 142 StVollzG ihre Einrichtungen so vorsehen, dass die Unterbringung eines Kindes möglich ist. Zum Schutz des Kindes darf das Gefängnis amtlich nicht als Geburtsort vermerkt werden.

Im folgenden Abschnitt geht es um explizite Gewalterfahrungen und Schilderungen von Kindstod. Überlege dir gut, ob du dies gerade lesen möchtest. Wenn das nicht der Fall ist, spring gerne zum nächsten Abschnitt, der mit „Neben dem zu Beginn bereits genannten Potenzial…“ beginnt.

Mehrere Berichte von schwangeren Personen in Haft zeigen aber, dass diese Rechte nicht immer eingehalten werden und mit welchen Herausforderungen schwangere und gebärende Personen in Haft umgehen müssen.
In einem ersten Bericht aus einer Vollzugsanstalt in Rheinland-Pfalz (Süddeutsche Zeitung) wird deutlich, wie schwer die Verlegung in eine sogenannte Mutter-Kind-Einrichtung ist. Der Antrag auf Verlegung in eine Vollzugsanstalt in Frankfurt am Main wird mit der Begründung abgelehnt, keine freien Plätze zur Verfügung zu haben, die Kapazitäten seien durch eigenen Bedarf gedeckt – die Schwangere muss in ihrer Vollzugsanstalt bleiben und kann ihren Sohn erst richtig kennenlernen, als sie 8 Wochen nach Geburt in den offenen Vollzug wechseln kann.
Die unzureichende Umsetzung und Mängel des Systems verdeutlichen sich in einem Bericht aus der JVA in Bützow (GG/BO), Mecklenburg-Vorpommern. Zu Beginn der Haft hat die Schwangere noch regelmäßig Termine bei der Gynäkologin, muss im Verlauf aber, trotz aufgetretener Risiken (erweitertes Nierenbecken des Kindes, verkürzter Muttermund der Mutter), in der JVA um weitere Termine betteln. Ein Antrag auf Haftunterbrechung (§ 455 StPO) zur Geburt, den sie selbstständig stellte, wird abgelehnt. Trotzdem sieht ihr Vollzugsplan zum Zeitpunkt der Geburt Lockerungen vor – d.h. eine Geburt ohne Anwesenheit von Beamt*innen. Die Schwangere kommt mit einsetzenden Wehen ins Krankenhaus, wird jedoch wegen eines Wehenstopps wieder in die Anstalt zurückgebracht. Dort hat sie starke Unterleibsschmerzen, die mit nicht ausreichend Schmerzmittel behandelt werden. Zwei Kontrolltermine bei einer Ärztin zeigen ein schlechtes CTG, die Schwangere wird trotz anhaltender Unterleibsschmerzen in die JVA zurückgeschickt. Trotz dieses Befundes und ihrer Schmerzen wird ihr von Seiten der JVA keine Hilfe angeboten. Erst als zwei Tage nach dem zweiten Kontrolltermin mit schlechtem CTG die Fruchtblase platzt, wird sie, nachdem Sanitäter*innen sie in der Zelle entbinden lassen wollen, auf eigenes Drängen ins Krankenhaus gebracht – ihr Sohn kommt blau zur Welt und verstirbt nach eineinhalb Stunden Reanimation.
Ihr wird kein angemessener Raum zum Trauern und sich Verabschieden gegeben, ein Antrag auf Haftunterbrechung für Beerdigung und Trauer wird abgelehnt.
Ein weiterer, den Umgang mit gebärenden Personen betreffender Aspekt ist die Fesselung der Inhaftierten. Für die gesamte Zeit außerhalb der JVA sind die Inhaftierten an Händen und/oder Füßen gefesselt. Nur beim Entbindungsvorgang im Kreißsaal wird die Fesselung gelöst, wenn keine Fluchtgefahr besteht. Gebärende Personen sind also bei allen gynäkologischen Untersuchungen, den Eröffnungswehen, bei Tot- oder Fehlgeburten und beim Stillen gefesselt und von Beamt*innen bewacht. Allerdings fehlt soziale und emotionale Unterstützung in den allermeisten Fällen, obwohl diese gerade bei gebärenden Personen als besonders vulnerable Gruppe in Haft dringend nötig wäre!

Neben dem zu Beginn bereits genannten Potenzial der Retraumatisierung der gebärenden Person durch eine Behandlung von männlichen Ärzten, kommt noch hinzu, dass schon allein die Inhaftierung und Trennung von Familie und sozialem Umfeld Stressoren für die schwangere Person darstellen, die negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit und die des Kindes haben können. Es wird nicht reichen, das bestehende System zu verbessern, um menschenwürdige Bedingungen für schwangere und gebärende Personen in Haft zu schaffen. Es muss eine neue Lösung geben. Schon 2009 forderte die WHO in einem Bericht über die „Gesundheit von Frauen im Strafvollzug“, Schwangerschaft grundsätzlich als Argument gegen Untersuchungs- wie auch Strafhaft gelten zu lassen, um die Gesundheit der gebärenden Person und des Neugeborenen zu schützen und stattdessen alternative Strafmaßnahmen, ohne Freiheitsentzug, in Betracht zu ziehen. Auch internationale Menschenrechtsstandards verpflichten den deutschen Staat laut einer Expertin für Frauenrechte bei Amnesty International, ausreichend Plätze für einen Strafvollzug für gebärende Personen zu schaffen! Schwangerschaft ist in Deutschland jedoch bisher kein Grund, von einer Haftstrafe abzusehen – genauso wenig wie Mutterschaft.

100.000 Kinder sind von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen. Gerade mal 93 Plätze in sogenannten Mutter-Kind-Zentren deutschlandweit sind der angebliche Versuch eines „familienfreundlichen Vollzugs“. Allein diese Zahlen zeigen: Kinder und Eltern werden im System Strafvollzug unsichtbar gemacht.
Durch die Inhaftierung eines Elternteils greift der Staat massiv in die Eltern-Kind-Beziehung ein. Kinder inhaftierter Eltern sind mitbestrafte Dritte, die unter den Bedingungen des Strafvollzugs in Deutschland besonders leiden. Die Inhaftierung und damit die Trennung eines Elternteils vom Kind kommt für das Kind meist plötzlich und unvorhersehbar, ein Verständnis dafür, warum ein Elternteil plötzlich nicht mehr da ist, kann in jungen Jahren oft noch gar nicht aufgebracht werden, psychosoziale Betreuungsangebote fehlen gänzlich. Die Folgen sind drastisch: Studien zeigen, dass gut ein Viertel der Kinder Inhaftierter Eltern auffällig psychisch belastet ist, auch zeigen diese Kinder mehr körperliche Beschwerden als gleichaltrige Nichtbetroffene.
Für ein gesundes Eltern-Kind-Verhältnis ist regelmäßiger Kontakt unerlässliche Grundvoraussetzung. Die Besuchsbedingungen in deutschen Gefängnissen kommen diesem Grundbedürfnis jedoch nicht annähernd nach. Besuchsregelungen in den meisten Gefängnissen beschränken ihre Besuchszeiten auf wenige Stunden im Monat, erschwerend kommt hinzu, dass viele Menschen fern ihres Heimatortes untergebracht werden, Anreisen für Familienangehörige sind dadurch lang und kostspielig. Auch die Bedingungen unter denen Besuche stattfinden, sind in keiner Weise familienfreundlich: kühle graue Räume, Plastikstühle, Anwesenheit von Beamt*innen, Kindern und Eltern wird der Körperkontakt verboten.
Sogenannte Mutter-Kind-Zentren sind ein Versuch der Justiz, mit den genannten Problemen umzugehen. Dass das mehr als ungenügend ist, zeigen schon die anfangs genannten Zahlen: Gerade einmal 93 Plätze für Mutter und Kind deutschlandweit. Hinzu kommt, dass Kinder nur bis zum 3. Lebensjahr bleiben dürfen, danach sei dem Kind die Unterbringung nicht mehr zuzumuten. Die traumatische Trennung vom Elternteil wird also bloß verschoben.
In welchem Verhältnis steht das Strafmaß des Elternteils zu den psychischen Belastungen, die Eltern und Kind für das ganze Leben aufgebürdet werden?
Die Verhältnisse der Strafjustiz missachten jegliche Rechte von Kindern und Eltern. Für alle betroffenen Eltern muss eine Verlegung in den offenen Vollzug oder eine alternative Strafe unbedingt möglich gemacht werden, wenn es die Straftat zulässt.
„Familienfreundlicher Vollzug“ ist ein Widerspruch in sich! Solange das Strafsystem von heute jedoch besteht, sind Sicherstellung von regelmäßigen Kontaktmöglichkeiten in einem familienfreundlichen Rahmen, psychosoziale Betreuungsangebote für alle Betroffenen sowie familiensensible Weiterbildungsmodule für Justizvollzugsbeamt*innen Forderungen, die unbedingt umgesetzt werden müssen. Eltern und Kinder existieren auch im System Knast und dürfen nicht länger unsichtbar gemacht werden!

Wir müssen also Hingucken. Es geht um werdende und bestehende Eltern. Es geht um Kinder. Es geht um unser Justizsystem, das bestehendes und entstehendes Leben im Knast nicht gleich setzt mit Leben außerhalb. Physische und psychische Gesundheit von Gebärenden und ihren Kindern muss im Vordergrund stehen. Wir brauchen nationale Regelungen, die der Fürsorgepflicht des Staates nachkommen und sie nicht umgehen. Sensibler Umgang mit Vorbelastungen und bestehenden Traumata, umfangreiche gesicherte medizinische Betreuung, offener Vollzug und Mutter-Kind-Zentren sind alles Ansätze, um bestehende, erkannte Probleme zu lösen. Es muss voller Tatendrang damit angefangen werden. Jetzt. In Deutschland und international.

Glossar

  • CTG: Das CTG (Kardiotokographie) ist eine Untersuchung zur Messung und Aufzeichnung der fetalen Herztöne und der Wehentätigkeit der gebärenden Person, vor allem vor und unter der Geburt.

Literaturverzeichnis

Siebert, J. (2018, 11. August). Wenn eine Mutter hinter Gittern sitzt. Süddeutsche Zeitung. https://www.sueddeutsche.de/leben/strafvollzug-und-familie-wenn-eine-mutter-hinter-gittern-sitzt-1.4085975

GG/BO Soligruppe Berlin (2019, 31. Januar). Schwanger im Knast- Bericht einer ehemaligen Gefangenen aus der JVA Bützow…. Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation. https://ggbo.de/schwanger-im-knast-bericht-einer-ehemaligen-gefangenen-aus-der-jva-buetzow/

Weltgesundheitsorganisation WHO (2009). Gesundheit von Frauen im Strafvollzug. https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/349845/WHO-EURO-2009-4247-44006-62056-ger.pdf?sequence=1&isAllowed=y

Halbhuber-Gassner, L. (2014, 18. Juli). Entbinden mit Fußfesseln – im Gefängnis gibt es das. Neue Caritas. https://www.caritas.de/neue-caritas/heftarchiv/jahrgang2014/artikel/entbinden-mit-fussfesseln–im-gefaengnis-gibt-es-das

Laubenthal, K. (2019). Strafvollzug (8. Auflage). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-58637-2

Kerwien, E.-V. (2013). Schwangerschaft und Mutterschaft in Haft: Plädoyer für einen Familiensensiblen Strafvollzug vor, während und nach der Geburt. Halbhuber-Gassner, L., Pravda, G. (Hrsg.), Frauengesundheit im Gefängnis. Lambertus.

Kerwien, Eva-Verena: Schwangerschaft und Mutterschaft in Haft. Plädoyer für einen familiensensiblen Strafvollzug vor, während und nach der Geburt. In: Frauengesundheit im Gefängnis, S. 55ff.

Ott, Merion: Klein(st)kinder mit ihren Müttern in Haft. Eine ethnographische Studie zu Entwicklungsbedingungen im (offenen und geschlossenen) Strafvollzug. Forschungsbericht einer Pilotstudie in Mutter-Kind-Heimen des offenen und geschlossenen Vollzugs einer Justizvollzugsanstalt. Frankfurt am Main 2012, 44 S DOI:10.25656/01:5768

Bieganski, Justyna, Starke, Sylvia & Urban, Mirjam. (2013). Kinder von Inhaftierten – Auswirkungen. Risiken. Perspektiven. Dresden/Nürnberg. Gefunden unter www.treffpunkt-nbg.de/projekte/coping/ergebnisse.html

Entbinden mit Fußfesseln – im Gefängnis gibt es das. (2014, Februar 12). caritas.de; Philipp Rudolf. https://www.caritas.de/neue-caritas/heftarchiv/jahrgang2014/artikel/entbinden-mit-fussfesseln–im-gefaengnis-gibt-es-das

Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge (2011, 05. Mai). Beginn des Lebens in Fesseln?. Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland. https://www.gefaengnisseelsorge.de/wp-content/uploads/2021/10/Stellungnahme_Schwangere-im-Vollzug_2011.pdf

 

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Rassismus und Knast

TW: Im folgenden Text geht es unter anderem um (Polizei-)Gewalt, Mord, Suizidalität, Tod und Folter. Wenn du im Moment nicht in der Lage dazu bist, damit umzugehen, dann lies diesen Text (jetzt gerade) besser nicht. Überlege dir, ob du den Text besser nicht alleine, sondern in Gesellschaft von Bezugspersonen lesen möchtest.
Für die einzelnen Abschnitte findest du Triggerwarnungen spezifisch nochmal am Anfang des jeweiligen Themas, damit du diese bei Bedarf gezielt überspringen kannst.

Unterstrichene Begriffe werden im Glossar am Ende des Texts erläutert.

Warum müssen wir über Rassismus reden, wenn es um Gefängnis und Gesundheit geht?

Etwa 28% der Inhaftierten in Deutschland haben keine deutsche Nationalität, im Gegensatz zu 12% in der Allgemeinbevölkerung.

Das ist ein Ergebnis davon, dass Medien, Universitäten, Gerichte und Polizei ein gemeinsames Feindbild kreieren, das Menschen rassifiziert und kriminalisiert.
Doch wen schützt unser Justizsystem? Und wer ist nicht mit gemeint bei dieser Sicherheit?

Europäische Nationalstaaten waren und sind seit ihrer Gründung mit diskriminierender Praxis und Ideologien der Abwertung verwoben. Unsere Justiz und Polizei zeigen Muster, die noch aus Kolonialzeit und/oder dem Nationalsozialismus kommen. Hinter Inhaftierungen stehen oft rassistische Motive und die Institution Gefängnis setzt die koloniale und faschistische Unterdrückung nicht-weißer Menschen täglich fort.

Rassismus bestimmt das deutsche Justizsystem und die Exekutive und richtet damit über den Weg der Menschen bis in den Knast und darüber hinaus.

In einer Gesellschaft, in der Menschen rassistisch sozialisiert sind, müssen wir aktiv dagegenstehen und aufzeigen, welches Unrecht jeden Tag – auch und gerade von Staatshand – in Deutschland geschieht. Wir können in diesem Text nicht auf alle wichtigen Aspekte eingehen, versuchen aber, einen Einblick zu geben, inwiefern Polizeipraxis, Verurteilung, Bedingungen sowie medizinische Versorgung im Gefängnis und Gesetzgebung von Rassismus durchzogen sind.

Menschen im Knast leiden jeden Tag. Menschen im Knast erleben täglich Rassismus. Menschen im Knast werden jeden Tag medizinisch unterversorgt.

Wir müssen über Rassismus reden, weil wir sonst Knast und Medizin nicht verstehen können.

Racial Profiling

TW Polizeigewalt

Was ist Racial Profiling? – Racial Profiling bezeichnet polizeiliche Maßnahmen und Maßnahmen von anderen Sicherheits-, Einwanderungs- und Zollbeamt_innen, wie Identitätskontrollen, Befragungen, Überwachungen, Dursuchungen oder auch Verhaftungen, die nicht auf einer konkreten Verdachtsgrundlage oder Gefahr (etwa dem Verhalten einer Person oder Gruppe), sondern allein aufgrund von („äußeren“) rassifizierten oder ethnisierten Merkmalen – insbesondere Hautfarbe oder (vermutete) Religionszugehörigkeit – erfolgen. Oft sind hier auch Verschränkungen mit weiteren Ungleichheitsdimensionen wie Geschlecht, sozio-ökonomischem Status, legalem Status, Sexualität, Be_hinderung, Sprache und Lebensalter zu verzeichnen. (https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/migration-und-sicherheit/308350/racial-profiling-institutioneller-rassismus-und-interventionsmoeglichkeiten/ (zuletzt abgerufen am 10.07.2023)

Dass Racial Profiling ein gefährliches und vielgenutztes Werkzeug der Polizei ist, ist gemeinhin bekannt. Doch woher kommt die Selbstverständlichkeit, mit der Racial Profiling praktiziert wird? Erschreckenderweise liegen die Wurzeln von Racial Profiling in aller Deutlichkeit in der deutschen Verfassung. Laut Gesetz ist es der Bundespolizei, welche als Erstkontrollinstanz das größte Ausmaß an Racial Profiling zu verantworten hat, verboten, unveränderliche äußere Merkmale als Auswahlkriterium für eine „anlasslose“ Kontrolle heranzuziehen. Das Bundespolizeigesetz jedoch ermächtigt Beamt*innen der Bundespolizei, Menschen für ihre Kontrollen zu selektieren – wobei diese nicht „anlasslos“ sind. Der Anlass ist die Rassifizierung der Betroffenen. Der Anlass wird jeden Tag symbolisch von allen Menschen getragen, die nicht weiß gelesen werden. Dieser Anlass kann weder abgestreift noch verändert werden und kostet viele das Leben.

Dass systematisch nur das äußere Erscheinungsbild der Bürger*innen herangezogen wird, obwohl das deutsche Grundgesetz dies ausdrücklich verbietet, liegt am ursprünglichen Zweck der Norm. Diese Normen sollten den Wegfall innereuropäischer Grenzkontrollen ausgleichen. Es wird der Bundespolizei also erlaubt, „anlasslos“ zu kontrollieren, um illegale Zuwanderung zu begrenzen. Damit suggeriert das Gesetz, dass der Aufenthaltsstatus eines Menschen am Aussehen festgemacht werden kann und ist somit eine legale Grundlage für Racial Profiling – eine Form der Diskriminierung, die gezielt BIPoC in ihrem täglichen Leben angreift und gefährdet. Unter Racial Profiling fallen jedoch nicht „nur“ die Kontrollen eines potentiell illegalen Aufenthaltes. Tatsächlich führt die gezielte Selektion und Diskriminierung von BIPoC aufgrund von äußeren Merkmalen, wie z.B. Gesichtszügen und Hautfarbe zur systematischen Aufrechterhaltung einer Scheinkorrelation zwischen BIPoC und strafbarem Verhalten. Denn warum sonst sollte die Polizei einen Menschen anhalten und kontrollieren? Dieser Mensch muss sich verdächtig gemacht haben. Hinter jeder Kontrolle steckt für Beobachtende somit eine starke bildliche Symbolik – die mehrheitlich weißen Polizist*innen kontrollieren die im Vergleich zu weißen Personen vermeintlich kriminelleren BIPoC. Genau dieses Szenario erlaubt nicht nur die verfassungsrechtliche, sondern auch eine gesellschaftliche Manifestation von Racial Profiling. Besonders äußert sich dies im Anzeigeverhalten von Bürger*innen. Junge, männlich gelesene BIPoC werden viel öfter bei der Polizei angezeigt als weiße Personen. Dies verstärkt wiederum fatalerweise das Vorurteil, BIPoC seien häufiger kriminell, und in der Konsequenz das Grundproblem – gesellschaftlichen Rassismus. Das Konzept von Racial Profiling wird also weit über seine ursprüngliche verfassungsrechtliche Legitimation der Erfassung von Menschen mit illegalem Aufenthaltsstatus praktiziert. Der Afrozensus erhob, dass über die Hälfte von 6000 Befragten schon einmal anlasslos kontrolliert worden sind. In einer Befragung im Rahmen eines Forschungsprojekts gab etwa die Hälfte der Befragten an, hinter den anlasslosen Kontrollen ihren ethnischen und/oder kulturellen Background zu vermuten. Ganze 62% der befragten BIPoC gaben an, sich in polizeilichen Gewaltsituationen diskriminiert zu fühlen – bei Menschen ohne Migrationshintergrund waren es gerade einmal 31%.

Racial Profiling ist auch im Jugendstrafrecht ein Problem. In Zusammenarbeit von Polizei und Universitäten zur Auslegung von Kriminalstatistiken werden sogenannte Intensivtäter*innen identifiziert. Dabei werden künstliche Täter*innen-Gruppen konstruiert, die vermeintlich viele Straftaten begehen, um diese Taten dann früh und hart zu verhindern.
Durch die Schaffung eines Feindbildes von „kriminellen und ausländischen Jugendlichen“ werden junge Menschen und ihre Communitys stigmatisiert und brutalisiert. Dadurch werden Personen, die nicht unbedingt viel straffällig werden, allein durch die Zuordnung zu dieser Gruppe intensiv verfolgt und besonders von der Ermittlungsbehörde beobachtet. Sie erleben also schon früh Kontakt mit Repressionen und Stigmatisierung.
Die Zuordnung zu diesen Gruppen wird mit sozialer Benachteiligung erklärt, passiert aber ganz klar auf der Basis von Rassismus und ist ein Paradebeispiel von Racial Profiling. Hierbei gehen Justiz, Polizei und Universitäten Hand in Hand, ohne dass Rassismus in der Kriminalpraxis und Forschung thematisiert wird.

Death in Custody

TW: Tod durch rassistische Polizeigewalt

Aber Rassismus führt noch viel weiter! BIPoC sind in ungleichem Maße von institutioneller Gewalt betroffen und häufig erleben die Betroffenen Mehrfachdiskriminierungen, die schwere Folgen haben können. Menschen, die von Rassismus betroffen sind, haben ein besonders hohes Risiko, in staatlicher „Obhut“ ums Leben zu kommen, denn sie sind generell häufiger von Polizeimaßnahmen betroffen. Außerdem eskalieren die Interaktionen mit der Polizei häufiger, da internalisierte rassistische Denkmuster zu einer niedrigeren Hemmschwelle für Gewaltanwendung führen. Ein weiterer Grund ist die Existenz von sowohl Straftaten, die nur Menschen ohne deutschen Pass begehen können („illegale Einreise“ oder „illegaler Aufenthalt“), als auch Haftnormen, die nur Menschen ohne deutschen Pass betreffen (z.B. Abschiebehaft).

„Aktuell wissen wir von 225 Todesfällen von Schwarzen Menschen, People of Color und von Rassismus betroffenen Personen in Gewahrsam und durch Polizeigewalt in Deutschland seit 1990“ (Bündnis „Death in Custody“, https://doku.deathincustody.info/, Stand: 27.06.2023).

Diese Todesfälle werden häufig nicht aufgeklärt und es kommt fast nie zur Bestrafung der Polizist*innen oder JV-Beamt*innen. Hauptursache der Todesfälle in Haft oder Gewahrsam sind dabei Gewaltanwendungen wie Erschießung oder physische Gewalt. Danach folgt Suizid, wobei sich hier die Schuldfrage stellt und uns der Fall Oury Jalloh noch deutlicher gemacht hat, dass wir hinterfragen müssen, ob dies nicht als Deckmantel für illegale Gewaltanwendung missbraucht wird.

„Bemühungen nach Aufklärung stoßen bei Polizei und Justiz auf Abwehr. Die Verzerrung der Geschehnisse zum Schutz von Polizeibeamt:innen und Mitarbeiter:innen in Einsperrinstitutionen, die gegebenenfalls in die Vorfälle verwickelt oder gar Täter:innen sind, wirft Fragen auf: Wer zählt in der Gesellschaft? Wessen Leben, wessen Tod sind von Relevanz? Wer hat Zugang zu Recht und Gerechtigkeit?“ (Bündnis „Death in Custody“)

Deshalb unterstützen wir die Forderungen von Death in Custody: Täter*innen müssen zur Verantwortung gezogen werden! Dafür braucht es zum Beispiel unabhängige Beschwerde- und Ermittlungsstellen. Wir brauchen Solidarität mit den Angehörigen anstelle von Kriminalisierung der Getöteten! Kontrollen dürfen nicht anlasslos und auf Basis von Racial Profiling passieren! Wir müssen strukturellen Rassismus in der Polizei und im Gefängnis anerkennen!

Denn: RASSISMUS TÖTET!

Rassistische Medizin im Knast

Um den Zusammenhang zwischen Rassismus und der medizinischen Versorgung im Gefängnis verstehen zu können, müssen wir uns zunächst anschauen, warum das medizinische System rassistisch ist.

In allen Bereichen der Gesundheitsversorgung inklusive der medizinische Ausbildung berichten Betroffene von Rassismuserfahrungen. Dies zeigt sich unter anderem in der individuellen Diskriminierung von Patient*innen durch medizinisches Personal, Rassismus findet sich jedoch auch in institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen wieder. In der medizinischen Ausbildung wird sich an rassistischen Wissensbeständen und Stereotypen bedient, die in der theoretischen und klinischen Lehre vermittelt werden. So ist die medizinische Lehre auf weiße cis-männliche Patienten mittleren Alters ausgerichtet, kulturspezifische und ethnische Aspekte der Medizin werden zu wenig in Betracht gezogen. Erst seit Ende der 90er-Jahre beinhaltet der Lernzielkatalog für Medizin überhaupt kulturelle Begriffe, transkulturelle Kenntnisse und die Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Krankheiten in der medizinischen Lehrausbildung. Viele reguläre Lehrbücher beinhalten noch veraltete, rassistische Referenzwerte, die in der Diagnostik und Therapie verwendet werden und überdacht werden müssen. Bei Dozierenden herrscht oft eine mangelnde Sensibilität für rassistische Stereotype und Kategorisierungen und deren unkritische Verwendung.
Besonders im Bereich der Schmerzbeurteilung prägen rassistische Vorurteile die medizinische Behandlung. Eine US-amerikanische Studie aus der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ zeigte, dass Afroamerikaner*innen bis zu 57 Prozent weniger Schmerzmedikation erhalten als andere Patient*innengruppen. Häufig werden die Schmerzsymptome von BIPoC als Simulation gedeutet und nicht ernst genommen. In der Notfallmedizin entstehen Risiken für nicht-weiße Menschen, da durch Unkenntnis und fehlende sensible Lehre das Erkennen von Hautveränderungen und Blutergüssen sowie die Suche nach Venen und das Legen eines Zugangs Schwierigkeiten darstellen.
Diese unsensible, rassistische medizinische Lehre spiegelt sich auch in der Behandlung in den Gefängnissen wider. Die medizinische Versorgung der Menschen im Gefängnis basiert also auf dem Unwissen der Behandelnden für eine geeignete Versorgung von rassifizierten Gruppen. Zudem gibt es keine Fortbildungen für Ärzt*innen, die in Gefängnissen arbeiten, und dementsprechend sensibilisiert werden könnten.

Die medizinische Versorgung im Gefängnis ist rassistisch.

Dadurch, dass es im Gefängnis keine freie Ärzt*innenwahl gibt, sind Inhaftierte der durch Vorurteile und Diskriminierung geprägten medizinischen Willkürbehandlung ausgeliefert, ohne die Option auf eine andere behandelnde Person zu haben.
Aufgrund des Mangels an medizinischem Personal in Gefängnissen werden medizinische Maßnahmen zum Teil von ungeschultem Gefängnispersonal durchgeführt. Beim Wachpersonal herrscht ein fehlendes Verständnis für die Notwendigkeit medizinischer Maßnahmen, die Sicherstellung regelmäßig verordneter Medikamente ist nicht gewährleistet und häufig werden Inhaftierten aus rassistischen Gründen Medikamente verweigert. Hinzu kommt, dass die Beziehung zwischen Wachpersonal und Inhaftierten einem Machtungleichgewicht unterliegt, das durch die Abhängigkeit der Gefangenen von der fachlichen und sozialen Kompetenz des Gefängnispersonals verschärft wird.
Ein weiteres gravierendes Problem sind mögliche Sprachbarrieren: Bei einem hohen Anteil an Menschen mit wenig Deutschkenntnissen in deutschen Haftanstalten verhindern Kommunikationsschwierigkeiten den Zugang zu Gesundheitsversorgung, da es keinen einfachen Zugang zu Dolmetscher*innen in Knästen gibt. Patient*innen können gleichzeitig erschwert auf eigene Ressourcen zur Sprachmittlung wie Familienangehörige zurückgreifen.
Bei Inhaftierten mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus zeigen sich weitere Schwachstellen in der medizinischen Versorgung: Bei unklarem Aufenthaltsstatus ist die medizinische Behandlungskontinuität erschwert, da die Finanzierung nach Haftende ungeklärt ist. Zusätzlich werden Vollzugslockerungen und Entlassungsvorbereitungen nur eingeschränkt durchgeführt.

Wir fordern:

Rassistische Stereotype und Kategorisierungen dürfen nicht Teil der medizinischen Lehre sein.
Die Gesundheitsversorgung im Gefängnis darf nur von geschultem und sensibilisiertem medizinischen Personal durchgeführt werden.
Es muss einen einfachen und schnellen Zugang zu Sprachmittlung für eine optimale Versorgung aller Menschen in Gefängnissen geben.
Die medizinische Versorgung muss im Gefängnis und außerhalb der Mauern frei von Rassismus und Diskriminierung sein!

Abschiebehaft – Haft ohne Straftat

TW Suizid, Tod, Folter, Gewalt

Angesichts ihrer drohenden Abschiebung töteten sich mindestens 300 Menschen in den Jahren 1997 bis 2017 selbst oder starben beim Versuch, vor ihrer Abschiebung zu fliehen. 87 dieser über 300 Personen befanden sich in (Abschiebe-)Haft.

„All diese Todesfälle sind den politisch Verantwortlichen bewusst. Sie sind ein Teil der Abschiebeindustrie, den sie wissentlich und willentlich in Kauf nehmen. Sie sind ein Teil des deutschen Asylsystems, das Menschen zum Warten zwingt und ihnen darin Vieles aufbürdet: Zermürbung, Unsicherheit, Depression, Ängste.“ (Lübecker Flüchtlingsforum e.V. (2020). Kein Abschiebegefängnis in Glückstadt und anderswo! http://glueckstadtohneabschiebehaft.blogsport.eu/files/2020/08/broschuere_web.pdf)

Im folgenden Abschnitt geht es um explizite Gewalt und Schilderungen von Suizidalität. Überlegt euch gut, ob ihr dies gerade lesen möchtet. Wenn das nicht der Fall ist, springt gerne zum nächsten Abschnitt, der mit „Die Geschichte von Herrn H. ist kein Einzelfall“ beginnt.

Unter den menschenunwürdigen Bedingungen in Abschiebehaft litt auch Herr H., der 3 Monate im Abschiebeknast in Büren, NRW, inhaftiert war und über den die analyse & kritik 2020 berichtete. Trotz schwerer psychischer Erkrankungen und Suizidalität fand seine Abschiebung nach Marokko statt. Er selbst berichtet von erschreckenden Zuständen während seiner Haftzeit: Statt adäquater psychiatrischer Behandlung wurde Herr H. nach einem Suizidversuch an Händen und Füßen gefesselt ins Krankenhaus gebracht und zurück in Haft isoliert. Ihm wurden Grundbedürfnisse verweigert und mit dem „Keller“ gedroht: Dabei handelt es sich um Isolationszellen, in denen durchgängig Musik gespielt wird. Das entspricht einer gängigen Foltermethode. Aufgrund seiner Suizidalität begleitete ein Arzt Herrn H. im Abschiebeflieger, zusätzlich war er im Flugzeug an Händen, Füßen und Rumpf fixiert. Der Arzt drohte Herrn H. bei Widerstand wiederholt mit Beruhigungsspritzen.

Der Fall zeigt medizinisches Versagen und ärztliche Mitschuld im rassistischen Abschiebesystem.

Die Geschichte von Herrn H. ist kein Einzelfall. Der Komplex der Abschiebeknäste ist schon innerhalb seines Rechtsrahmens menschenunwürdig – Rechtsbrüche durch die Haftanstalten und während der Inhaftierung sind zusätzlich weit verbreitet.

Abschiebehaft bezeichnet den Freiheitsentzug durch die Ausländerbehörde oder die Bundespolizei vor der Abschiebung. Menschen werden also inhaftiert, nicht weil sie eine Straftat begangen haben, sondern um dem Staat den Verwaltungsakt der Abschiebung zu erleichtern. Diese Praxis existiert so oder so ähnlich seit 1919 und steht in antisemitischer und rassistischer Tradition.
Ein „begründeter Verdacht“, dass eine Person sich ihrer Abschiebung entziehen möchte, ist für eine Inhaftierung ausreichend. In der Praxis führt das zu mitunter absurden Begründungen – etwa, dass Personen nicht zu Hause angetroffen werden oder äußern, dass sie nicht in ihr Herkunftsland zurück möchten. Ob die Inhaftierung rechtens war, stellt sich oft erst nach der Abschiebung heraus: Zwischen 2015 und 2017 wurden im Abschiebeknast in Büren 221 Abschiebungsverfahren durch einen solidarischen Verein begleitet. Von diesen Verfahren waren Stand 2018 insgesamt 119 rechtskräftig abgeschlossen, in 60% der Fälle war die Inhaftierung rechtswidrig.
Da die Gefangenen keine Straftäter*innen sind, dürfen sie auch nicht gefängnisähnlich untergebracht werden. Die Realität sieht jedoch anders aus: In vielen Haftanstalten sind vor allem während der letzten Jahre die Bedingungen verschärft worden. Konkret heißt das: Gefängniszäune mit NATO-Draht, ausgeweitete Videoüberwachung, Verbot von Handybesitz, verlängerte Einschlusszeiten, weniger Hofgang und Zellen mit abschließbaren, schalldämmenden Fenstern.
Die medizinische Versorgung ist vor allem psychiatrisch mangelhaft, es fehlen Dolmetscher*innen und das Personal ist nicht geschult im Umgang mit fluchtbedingten Traumata.
Bis zu 1,5 Jahre kann die Haft andauern, wobei die genaue Länge willkürlich von Verwaltungsakten abhängt. Gleichzeitig tragen die Inhaftieren die Kosten selbst – in Büren sind das 240€ pro Tag (Stand 2017).

Der Abschiebeknast in Büren ist mit 175 Haftplätzen der größte Abschiebeknast Deutschlands und liegt ganz in der Nähe von Köln. Regelmäßig berichten Betroffene von unwürdigen Bedingungen. Dazu gehören willkürliche Einzelhaft in Isolation ohne rechtliche Grundlage und ohne Beschwerdemöglichkeit für die Inhaftierten, erniedrigende Durchsuchungen mit kompletter Entkleidung, permanente unverpixelte Kameraüberwachung aller Räume inklusive der Toiletten und extreme Bestrafung bei willkürlich definiertem „Fehlverhalten“. Auch der oben beschriebene Fall von Herrn H. spielte sich in der Haftanstalt in Büren ab. Die nationale Stelle zur Verhütung von Folter berichtete 2018, die Lebensbedingungen in Büren seien unhaltbar und ein massiver Eingriff in die Grund- und Persönlichkeitsrechte.

Inhaftierte in Abschiebeknästen stehen unter massiver psychischer Belastung. Ihre Zukunft ist unsicher, es ist nicht klar, wann und ob die Abschiebung droht und was sie im Herkunftsland erwartet – bei oft bereits traumatischer Fluchtgeschichte. Dabei fehlt häufig psychologische Betreuung. Der Knast fängt nicht auf, sondern (re-)traumatisiert Betroffene.

„Bei den Menschen, die durch das deutsche Asylsystem in solch entwürdigende Lebenssituationen gezwungen werden, handelt es sich um Menschen auf der Suche nach einem sicheren und guten Leben. Deshalb müssen Einrichtungen wie der Abschiebeknast in Büren mit seinen Foltermethoden und Erniedrigungen aus der Deckung gesellschaftlicher Akzeptanz geholt, das System, das solch eine Praxis kreiert, muss abgeschafft werden.“ (Ausbrechen Paderborn und AK Asyl Göttingen und Witzenhausen (2020). Die Abschiebung des Herrn H. analyse & kritik https://www.akweb.de/gesellschaft/die-abschiebung-des-herrn-h/)

Wir fordern:

  • Pflichtanwält*innen für jede Person, die in Abschiebehaft kommt
  • Zugänge für NGOs zu den Abschiebegefängnissen
  • einen Baustopp neuer Abschiebeknäste
  • vollwertige medizinische und psychologische Versorgung Inhaftierter

Doch selbst der schönste Abschiebeknast bleibt rassistische Unterdrückung: Weg mit Grenzen, lasst uns Abschiebungen stoppen und Abschiebeknäste abreißen!

NO BORDER, NO NATION, STOP DEPORTATION!

Glossar

  • Afrozensus: Der Afrozensus ist die erste umfassende Studie, die sich mit den Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen und Perspektiven Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland befasst. Die Ergebnisse wurden 2020 erhoben und 2021 veröffentlicht. (https://afrozensus.de/, zuletzt aufgerufen am 07.07.2023)
  • BIPoC: Abkürzung für „Black, Indigenous and People of Color“ (auf deutsch: Schwarze Menschen, indigene Menschen und People of Color (wird nicht übersetzt))
  • cis: „‚Cis‘ ist das Gegenstück zu ‚trans‘. ‘Cis‘ wird benutzt, um auszudrücken, dass eine Person das Geschlecht hat, dem sie bei der Geburt aufgrund der Genitalien zugewiesen wurde.“ (queer-lexikon.net, zuletzt aufgerufen am 07.07.2023)
  • Oury Jalloh: Oury Jalloh starb am 07.01.2005 im Alter von 36 Jahren in einer Dessauer Polizeizelle. Die Justiz stellt seinen Tod als Selbstmord da, es gibt aber zahlreiche Gutachten und Beweise dafür, dass dies nicht stimmen kann. Es wird vermutet, dass Polizist*innen Oury Jalloh aus rassistischen Gründen ermordeten. Bis heute ist der Fall nicht aufgeklärt, 2019 wurde das Verfahren offiziell eingestellt. (https://doku.deathincustody.info/cases/2005-01-07-oury-jalloh-12-238513879551425/* (zuletzt aufgerufen am 07.07.2023), mehr Infos unter https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/) *
  • Rassifizierung: Rassifizierung bezeichnet die Konstruktion von „Rassen“ durch Kategorisierung, Homogenisierung und Hierarchisierung von Menschen auf der Grundlage ausgewählter Merkmale wie Hautfarbe, Sprache oder Religion. Dem Merkmal wird eine existenzielle Bedeutung zugeschrieben und zugleich wird es als wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Gruppen begriffen. (https://rise-jugendkultur.de/glossar/rassifizierung/ (zuletzt abgerufen am 10.07.2023))

Quellen

Quellen Einleitung

Quellen Racial Profiling

Quellen Rassismus in der Knastmedizin

Quellen Abschiebehaft

 

Kategorien
Medizin und Knast

Trans* im Knast

Triggerwarnung: Im folgenden Text werden Transfeindlichkeit, Gewalt und Isolationshaft mit ihren körperlichen und psychischen Folgen thematisiert. Wenn du im Moment nicht in der Lage dazu bist, damit umzugehen, dann lies diesen Text (jetzt gerade) besser nicht. Überlege dir, ob du den Text besser nicht alleine, sondern in Gesellschaft von Bezugspersonen lesen möchtest.

Trans* sein wird im Gefängnis nicht mitgedacht. Stattdessen werden trans* Menschen aktiv diskriminiert und isoliert. Neben allgemeinen krankmachenden Faktoren des Knastalltags sind Gefangene, die trans* sind, von weiteren spezifischen (gesundheitlichen) Problemen im Gefängnis betroffen.

(Einige wichtige Begriffe, die nicht direkt im Text erklärt werden, sind am Ende der Seite im Glossar zu finden. Dort finden sich auch Verweise, die im Text an der jeweiligen Stelle mit einer Fußnote markiert sind.)

Zuteilung zu Männer- und Frauengefängnissen

Institutionelle Transfeindlichkeit wird schon in der Zuteilung zu Männer- und Frauengefängnissen sichtbar. Es gilt der sogenannte Trennungsgrundsatz. So werden Personen nach ihrem Personenstand, also dem eingetragenen Geschlecht, eingeteilt. Dabei ist es den Justizvollzugsanstalten selbst überlassen, ob sie einen Ergänzungsausweis anerkennen.

Das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG), welches das diskriminierende und veraltete sogenannte Transsexuellengesetz (TSG) ablösen soll, bringt bezüglich der Zuteilung zum Gefängnis keine Verbesserung für trans* Menschen. Im Gegenteil steht im aktuellen Entwurf des SBGG unter dem Punkt „Unterbringung im Justizvollzug“ explizit ein Passus, der besagt, dass die Einteilung nicht auf Basis des Personenstandes bzw. Personenstandsänderung erfolgen muss:

„Die Unterbringung von Strafgefangenen muss sich nicht allein am Geschlechtseintrag orientieren, das SBGG gebietet mithin nicht, dass Personen immer entsprechend ihrem personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag in einer entsprechenden Anstalt untergebracht werden. Das Grundgesetz und die Fürsorgepflicht der Anstalt verlangen vielmehr, bei der Unterbringung im Strafvollzug die Sicherheitsinteressen und Persönlichkeitsrechte aller Strafgefangenen zu berücksichtigen. Ändert ein bislang männlicher Strafgefangener seinen Geschlechtseintrag in „weiblich“, können Persönlichkeitsrechte und Sicherheitsinteressen anderer Strafgefangenen seiner Verlegung in ein Frauengefängnis gegebenenfalls entgegenstehen, eine Differenzierung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls bleibt nach Maßgabe der Landesgesetze mithin auch weiterhin möglich.“1

Zwar ist eine Personenstandsänderung nach TSG komplizierter, aufwändiger, teurer und hochschwelliger als durch das SBGG, jedoch bietet eine Personenstandsänderung nach TSG offensichtlich eine klarere Grundlage bei der Zuordnung zu Männer- und Frauengefängnissen als die Personenstandsänderung nach SBGG. Gleichzeitig wird hier ein transfeindliches Narrativ der „Sicherheitsinteressen anderer Strafgefangenen“ aufgenommen.

Nicht-Binarität und Intergeschlechtlichkeit finden weder im Trennungsgrundsatz noch im SBGG Erwähnung. Es ist davon auszugehen, dass nicht-binäre Menschen hauptsächlich auf Basis ihres bei der Geburt zugewiesenen Geschlechts und Personenstands bzw. auf Basis biologischer Merkmale zugeteilt werden.

Diskriminierung im Gefängnis und Isolationshaft

Trans* Menschen erleben in Gefängnissen laut Studien regelmäßig Anfeindungen, Diskriminierung und Gewalt von Personal und anderen Gefangenen2. Personal und andere Gefangene sind nachweislich nicht ausreichend sensibilisiert im Umgang mit trans* Menschen3. Das führt zu häufigeren Konflikten, auch zwischen den Gefangenen.

Immer wieder wird berichtet, dass es bei Konflikten und gewaltvollen Auseinandersetzungen im Gefängnis häufig üblich ist, aus „pragmatischen Gründen“ nicht die Aggressor*innen, sondern die angegriffene Person in Isolationshaft unterzubringen. Häufig gehören diese einzelnen, angegriffenen Personen (mehrfach) marginalisierten Gruppen an. So ist davon auszugehen, dass auch trans* Menschen häufiger isoliert werden. Berichten zufolge erfolgt diese Isolierung von trans* Menschen teilweise schon vor dem Auftreten von Konflikten mit der Begründung einer „Gefahr der Sicherheit“. Gewaltvollen Auseinandersetzungen soll dadurch vermeintlich vorgebeugt werden. Offizielle Zahlen und statistische Auswertungen zu trans* Menschen in Isolationshaft gibt es nicht.

Die Isolationshaft ist eine schwerere Form des Strafvollzugs mit kompletter Abgrenzung von anderen Gefangenen. Zahlreiche gesundheitliche (Langzeit-)Folgen körperlicher und psychischer Art sind nachgewiesen4. So ist die Isolationshaft u.a. als der größte Risikofaktor für Suizid bei Gefangenen belegt5.

Medizinische Transition in Haft

Das in Deutschland geltende Äquivalenzprinzip besagt, dass Gefangenen die gleiche medizinische Versorgung in Haft zusteht wie gesetzlich Versicherten außerhalb des Knasts. Trotz des Äquivalenzprinzips haben trans* Menschen nur eingeschränkte Möglichkeiten der sozialen und medizinischen Transition im Knast. Die Dringlichkeit der Versorgung wird häufig kleingeredet mit dem Verweis darauf, dass die Transition bis nach der Haftstrafe warten könne. Dass ein Aufschieben dieser Maßnahmen schlecht ist, wird selbst in der aktuellen S3-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit“ deutlich. In dieser wird auf die Wichtigkeit und Notwendigkeit medizinischer Transitionsmaßnahmen hingewiesen und es werden Studien zitiert, die eine Verbesserung der psychischen Gesundheit von trans* Menschen durch von ihnen erwünschte körperliche Veränderungen belegen6.

Des Weiteren wird Fachpersonal häufig nicht hinzugezogen und Anträge zu stellen für die Durchführung und Kostenübernahme von Leistungen im Rahmen der medizinischen Transition wird meistens erschwert. Dazu kommt, dass es an einer psychologischen Betreuung in der Regel gänzlich fehlt. Wenn eine medizinische Transition im Knast stattfindet, ging dieser in den meisten Fällen ein mühsamer Prozess der Betroffenen voraus. Diese Situation beschreiben viele trans* Personen, die in Haft medizinisch transitionieren wollten oder mit der Transition begonnen haben. Verlässliche Zahlen gibt es nicht, unter anderem auch, weil nicht einmal die Anzahl an trans* Menschen in deutschen Gefängnissen erfasst wird.

Initiativen wie die trans*-Ratgeber-Gruppe bieten Informationen für trans* Menschen in Haft an. In ihrer Broschüre7 wird neben Regularien, Tipps und Möglichkeiten der Transition in Haft auch auf die alltäglichen Probleme und Herausforderungen von trans* Menschen in Haft eingegangen.

Öffentliche Wahrnehmung

In der Öffentlichkeit wird häufig ein falsches Bild von Gefangenen gezeichnet, das suggeriert, Menschen seien selbst schuld, im Knast zu sein. Das ignoriert die Lebensumstände (mehrfach) marginalisierter und armer Menschen, die einerseits durch ihre Lebensumstände straffällig werden und andererseits für ihre Lebensumstände (z.B. Armut im Fall von Ersatzfreiheitsstrafen) bestraft werden. Zugespitzt wird dies in dem negativen Bild, das viele Menschen von Gefangenen in Isolationshaft haben. Doch auch hier werden die zuvor genannten Faktoren außer Acht gelassen. Insbesondere trans* Personen werden als kompliziert und fordernd sowie als Bedrohung der Sicherheit dargestellt. Es gibt einige Menschen, die mit ihren Erfahrungen im Gefängnis an die Öffentlichkeit gehen. Eine davon ist Alexia Metge, die über ihre Erfahrungen als trans Frau im Knast spricht8,9. Es ist wichtig, neben den Fakten über Gefängnis und Gesundheit und der besonders prekären Situation von trans* Menschen in Haft auch diese persönlichen Erfahrungsberichte zu hören und zu verbreiten.

Forderungen

Neben den gesundheitlichen und sozialen Problemen, denen alle Gefangenen im Knast ausgesetzt sind, sind trans* Menschen also von weiterer Gewalt betroffen. Falsche Zuteilung, Diskriminierung, körperliche Gewalt, häufigere Isolationsmaßnahmen und eine mangelhafte medizinische Versorgung im Rahmen der medizinischen Transition sind starke Risikofaktoren für verschiedene psychische und körperliche Probleme und machen krank.

Innerhalb des Strafsystems sollten aus sozialen und gesundheitlichen Gründen zumindest einige Veränderungen angestrebt werden, um die jetzige Situation von Menschen in Haft zu verbessern: Dazu gehören eine Abschaffung der Isolationshaft, ein professionelles Angebot der medizinischen und sozialen Transition, eine Sensibilisierung von Personal und anderen Gefangenen im Umgang mit trans* Personen sowie eine korrekte Zuteilung der Gefangenen nach Personenstand im angepassten Ausweisdokument bzw. im Ergänzungsausweis. Nicht-binäre und inter* Personen sollten selbst über ihre Zuteilung entscheiden dürfen.

Das Gefängnissystem, wie es momentan existiert, macht krank. Klar ist: wir brauchen einzelne Veränderungen für eine vorübergehende Verbesserung der Situation. Vor allem braucht es aber – gerade auch aus gesundheitspolitischer Sicht – einen grundlegenden Wandel: lasst uns das Strafsystem transformieren und uns nicht nur mit Reformen zufrieden geben! Queere Solidarität im Knast und überall!

Glossar/Erklärungen

  • Ergänzungsausweis: Ein Ergänzungsausweis ist ein Dokument, das ähnlich groß wie ein Personalausweis ist und diesen ergänzt, also in Kombination mit diesem gültig ist. Er kann relativ unbürokratisch über die dgti e.V. (Deutsche Gesellschaft für Transsexualität und Intersexualität) beantragt werden und ermöglicht die Angabe eines selbstgewählten Vornamens und Geschlechtseintrags.
  • Intergeschlechtlichkeit: „Intergeschlechtlichkeit bezeichnet generell angeborene körperliche Merkmale, die nicht in die binäre gesellschaftliche Norm von männlich und weiblich passen. […] Dies bedeutet […], dass der Körper eines intergeschlechtlichen Menschen nicht dem entspricht, was wir als Gesellschaft als männlich oder weiblich klassifizieren.“ (inter-nrw.de, zuletzt angerufen am 30.6.2023)
  • Nicht-binarität: „Nichtbinär ist ein Geschlecht. Als nichtbinär können sich Menschen bezeichnen, die nicht (oder nicht zu 100%) Mann oder Frau sind. Stattdessen ist ihr Geschlecht beispielsweise beides gleichzeitig, zwischen männlich und weiblich, oder weder männlich noch weiblich.“ (queer-lexikon.net, zuletzt angerufen am 29.6.2023)
  • S3-Leitlinie: Eine S3-Leitlinie ist die wissenschaftlich hochwertigste Form einer medizinischen Leitlinie, die evidenz- und konsensbasiert entwickelt wird, also strukturierte Studien und Expert*innenmeinungen einfließen lassen und stetig aktualisiert werden. Sie dienen als Behandlungsgrundlage in der Medizin.
  • trans*: „Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, sind trans. Nicht alle Menschen, auf die dies zutrifft, bezeichnen sich selbst so. Trans wird jedoch häufig als Selbstbezeichnung verwendet.“ (queer-lexikon.net, zuletzt angerufen am 29.6.2023)
  • Transition: „Als Transition wird der Prozess bezeichnet, in dem eine trans Person soziale, körperliche und/oder juristische Änderungen vornimmt, um das eigene Geschlecht auszudrücken. Dazu können Hormontherapien und Operationen gehören, aber auch Namens- und Personenstandsänderungen, ein anderer Kleidungsstil, eine neue Frisur und viel anderes.“ (queer-lexikon.net, zuletzt angerufen am 29.6.2023)

Verweise

1. Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(https://www.bmfsfj.de/resource/blob/224548/4d24ff0698216058eb758ada5c84bd90/entwurf-selbstbestimmungsgesetz-data.pdf)

2. Wissenschaftliches Review: Experiences of transgender prisoners and their knowledge, attitudes, and practices regarding sexual behaviors and HIV/STIs: A systematic review (Brömdal et al., 2019)

(https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32999591/)

3. Wissenschaftliches Review: Contemporary transgender health experience and health situation in prisons: A scoping review of extant published literature (2000-2019) (Van Hout et al., 2020)

(https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34993510/)

4. Wissenschaftliches Review: The body in isolation: The physical health impacts of incarceration in solitary confinement (Strong et al., 2020)

(https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33035215/)

5. Wissenschaftliches Review: Suicide in prisoners: a systematic review of risk factors (Fazel et al., 2008)

(https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/19026254/)

6. S3-Leitlinie “Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit“

(https://register.awmf.org/assets/guidelines/138-001l_S3_Geschlechtsdysphorie-Diagnostik-Beratung-Behandlung_2019-02.pdf)

7. Broschüre “Trans* Menschen in Haft“ von der trans*-Ratgeber-Gruppe

(http://transundhaft.blogsport.de/images/Informationen_Fur_Transmenschen_inHaft2.pdf)

8. Artikel mit Alexia Metge in nd „Transidentität ist ein Fremdwort“

(https://www.nd-aktuell.de/artikel/1147023.transgeschlechtlichkeit-transidentitaet-ist-ein-fremdwort.html)

9. Artikel mit Alexia Metge in Zeit „Frau Metge kommt frei“ (hinter Paywall)

(https://www.zeit.de/zett/queeres-leben/2023-02/trans-menschen-frau-haft-gefaengnis)

Kategorien
Medizin und Knast

Medizinische Versorgung im Knast

Gesundheit für Alle! Oder?

TW: Triggerwarnung: Im folgenden Text werden psychische Erkrankungen, Suizidalität, Sucht und Abhängigkeitserkrankungen thematisiert. Wenn du im Moment nicht in der Lage dazu bist, damit umzugehen, dann lies diesen Text (jetzt gerade) besser nicht. Überlege dir, ob du den Text besser nicht alleine, sondern in Gesellschaft von Bezugspersonen lesen möchtest.

Medizinische Versorgung ist ein Menschenrecht. Per Gesetz sollten in Deutschland alle Menschen die notwendige medizinische Versorgung erhalten, die sie benötigen.[1] Das gilt auch für Personen die im Gefängnis sind.

Gemäß dem Äquivalenzprinzip (Sozialstaatsgebot; Art. 20 Abs. 1 GG), welches die Grundlage der medizinischen Versorgung in Haft regelt, sollte der Umfang der Gesundheitsversorgung in Haft grundsätzlich dem der gesetzlichen Krankenversicherung in Freiheit entsprechen. Gewährleistet werden sollte daher auch in Haft, eine leitliniengerechte, evidenzbasierte und patient*innenzentriete Versorgung.

Die Realität sieht anders aus. Das fängt dabei an, dass Bedingungen für eine gute medizinische Versorgung per se im Widerspruch zur Haftstrafe stehen. Die psychosozialen Belastungen eines Freiheitsentzugs, Isolation und Bewegungsmangel führen dazu, dass In Haft sein intrinsisch gesundheitsschädigend ist. Dem ist auch nicht durch die beste Gesundheitsversorgung in Haft entgegenzuwirken. Aber auch davon kann keine Rede sein. Die medizinische Versorgung in deutschen Haftanstalten, ist nicht mal ausreichend, geschweige denn gut.

Was ist der Status quo und die Problematiken in der Gesundheitsversorgung von Menschen in Haft?

In den allermeisten Fällen besteht keine freie Ärzt*innenwahl, da die medizinische Versorgung von Menschen in Haft primär durch sogenannten Anstaltsärzt*innen durchgeführt wird. Gerade im psychotherapeutisch-psychiatrischen Kontext hängt ein Therapieerfolg von einer guten Beziehung zwischen Behandler*in und Patient*in ab. Sich als Patient*in eine Zweitmeinung über eine potenzielle Diagnose oder die bestmögliche Behandlung einzuholen? Auch nicht möglich. Genauso fehlt die Möglichkeit einer unabhängigen Kontroll- und Beschwerdestelle für Patient*innen.

Anstalts*ärztinnen haben nicht nur Verpflichtungen gegenüber ihrer Patient*innen sondern auch gegenüber dem Justizsystem. Neben der Aufgabe ihre Patient*innen in Haft medizinisch gut zu versorgen, gehören auch eine Reihe Vollzugsaufgaben zu ihrem Alltag. Sie schreiben Gutachten, führen Urin- und Blutkontrollen durch und schätzen die mögliche Anwendung von Disziplinarmaßnahmen ein. Zudem ist die ärztliche Schweigepflicht in bestimmten Situationen durch „Offenbarungsbefugnisse über ärztliche Geheimnisse“ (§ 182(2) StVollzG) gegenüber der Justiz eingeschränkt ist. Anstaltsärzt*innen befinden sich dadurch in einem ständigen Spagat zwischen Sicherheitsauftrag und ihrem medizinischen Auftrag. Das diese von den Landesjustizministerien finanziert werden verstärkt diese „Dual Loyalty“ nur noch weiter. Von einem uneingeschränkten patient*innenorientiertem Handeln und einem auf Augenhöhe und auf Vertrauen basierten Ärzt*in-Patient*in- Verhältnis kann hier nicht ansatzweise die Rede von sein.

Erschwert ist außerdem der Zugang zu Sprachmittlung. Während in Freiheit zur Not noch auf Angehörige zurückgegriffen werden kann, fehlt es in Haftanstalten an ausreichend zur Verfügung gestellten Übersetzer*innen. Es resultieren gravierende Kommunikationsschwierigkeiten, die gerade in medizinischen Kontexten bedeutsame negative Konsequenzen mit sich ziehen können. Das sowieso bestehenden Machtgefälle in einer Ärzt*innen-Patient*innen-Beziehung wird durch diese Einschränkungen in Haft noch verstärkt und ist höchst problematisch.

Auch wenn Anstaltsärzt*innen bei fachspezifischem Behandlungsbedarf Überweisungen an externe Fachärzt*innen ausstellen können, müssen diese dennoch ein sehr breites medizinisches Aufgabenfeld abdecken. Im Grunde sind sie unter anderem mit allgemeinmedizinischen, infektiologischen, gynäkologischen sowie psychiatrischen und suchtmedizinischen Fragestellungen konfrontiert. Umso problematischer ist es, dass es bisher kein systematisches Curriculum für Anstaltsärzt*innen und auch keine Fortbildungspflicht in den zuvor genannten Fachgebieten gibt.

Hinzu kommt, dass in allen Bundesländern, wie auch in der Regelversorgung in Freiheit, ein großer Mangel an Ärzt*innen und medizinischem Fachpersonal herrscht. Durch diesen starken Personalmangel kommt es immer wieder zur Durchführung medizinischer Maßnahmen durch ungeschultes Personal.

Teilweise erweitert wird die medizinische Versorgung in Haft durch sogenannte Gefängniskrankenhäuser. In diesen sind alle soeben genannten Problematiken genauso vorhanden. Externe Einrichtungen sind ein letzter und seltener Schritt in der Versorgung inhaftierter Personen. Der organisatorische Mehraufwand durch die vorgeschriebene Überwachung der Patient*innen führt zu oft zu einer Nicht-Inanspruchnahme externer Einrichtungen und damit zur Fehlversorgung von Patient*innen.

Die Fehlversorgung von inhaftierten Personen in Haft steht einem besonders hohem Bedarf an medizinischer Versorgung und Prävention gegenüber. Die infektiologische Versorgung in Haft hängt den heutigen medizinischen Standards teilweise weit hinterher und das obwohl z.B. HIV- und Hepatitis C-Infektionen unter Menschen in Haft deutlich häufiger als in der Allgemeinbevölkerung vorkommen. Eigentlich sollen allen Inhaftierten bei Aufnahme und bei Bedarf im Verlauf Screening-Untersuchungen auf HCV, HBV und HIV angeboten werden und kostenlos Kondome zur Verfügung gestellt werden. Diese Untersuchungen werden allerdings nicht flächendeckend und standardisiert durchgeführt. Auch die Versorgung mit empfohlenen Impfungen bei HIV-Infektionen ist mangelhaft, genauso wie die Behandlung der jeweiligen Erkrankungen. Zwischen 2014 und 2019 erhielten nur 71 von 282 Menschen mit Hepatitis C in sächsischen Gefängnissen eine Behandlung. Präventionsansätze sucht man zudem fast vergebens. Ebenso wie in Freiheit gilt es Menschen in Haft vor Übertragungen zu schützen.

Auch im Bereich der medizinischen Versorgung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen ist eine immense Fehl- und Unterversorgung festzustellen.
Etwa 22-30% der Menschen in Haft sind intravenös drogengebrauchend. Schätzungen zufolge erhalten jedoch nur etwa 10 % der opiodabhängigen Personen in Haft eine geregelte Substitution. Zu der mangelnden Versorgung kommt hinzu, dass drogenabhängige Menschen besonders kriminellen Strukturen und Hierarchien in Haft, sowie psychosozial belastender Stigmatisierung und Ausgrenzung ausgesetzt sind. Neben fehlenden sozialen Strukturen nach Entlassung ist vor allem problematisch, dass während der Haft statt auf geregelte Substitution auf (partielle) Abstinenz gesetzt wird. So kommt es zu niedrigen Substanztoleranzen bei Haftentlassung. Es ergibt sich ein Teufelskreis aus Illegalität, Beschaffungskriminalität, Haft, Freiheit und Rückfall und eine signifikante Zunahme der Wahrscheinlichkeit für lebensbedrohliche Überdosierungen. Dementsprechend sind die drogenbedingten Todesfälle nach Haftentlassung überdurchschnittlich hoch. Es wird verpasst den Menschen eine geregelte Substitution zu ermöglichen und damit substituierte Patient*innen ohne Beschaffungsdruck gesundheitlich und sozial stabilisiert entlassen zu können.

Der Umgang mit psychischen Erkrankungen bzw. die psychotherapeutische und psychiatrische Versorgung in Haft: unzureichend.

Ist eine gute psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung in dem psychisch belastendem Setting Gefängnis überhaupt möglich? Fraglich. Eine Inhaftierung ist oftmals mitverursachend für eine psychische Erkrankung. Bundesweite und valide Aussagen über die Prävalenz psychischer Erkrankungen lassen sich aufgrund fehlender vollständiger und systematischer Datenerhebungen nicht machen. Ebenso gibt es keine Analyse der Versorgungssituation, weder bezüglich der verschriebenen Psychopharmaka noch der durchgeführten Psychotherapien in Haft. Es lässt sich jedoch vermuten, dass ein Fokus auf die medikamentöse Therapie gelegt wird.
Ein gravierendes Problem ist, dass psychische Probleme und Auffälligkeiten gefährlicherweise teils als Zeichen des Widerstandes der Inhaftierten angesehen werden.
Jährlich steigende Suizidraten in Haft spiegeln jedoch die dringliche Notwendigkeit und eine Verbesserung dieses Versorgungsdefizites dramatisch wider.

Ebenso ist die zahnmedizinische Versorgung in Haft desolat. Auf dem Papier ist diese einschließlich Zahnersatz vorgesehen, jedoch können Landesjustizverwaltungen bestimmen, dass Zuschüsse von inhaftierten Menschen gezahlt werden müssen. Hierdurch werden viele Behandlungen aufgrund des Selbstkostenanteils unbezahlbar. Da das Ausmaß der zahnärztlichen Behandlung von Haftdauer und -art abhängt, ist zum Beispiel bei Untersuchungshaft, Ersatzfreiheitsstrafen oder Haftlängen, die die Behandlungsdauer unterschreiten, nur eine Schmerzbehandlung bzw. chirurgische Therapie vorgesehen.

Fazit: Personen in Haft sind systematisch fehl- und unterversorgt.

Aber sobald die Haftstrafe abgesetzt wurde, erhalten Personen wieder eine gute medizinische Versorgung in Regelversorgung? Nicht zwingend!

Selbst über die Haftdauer hinaus kann es zu einer unzureichenden Gesundheitsversorgung kommen. Mit Haftbeginn scheiden Menschen aus der gesetzlichen Krankenversicherung aus, da die Justizvollzugsbehörden für die Finanzierung der medizinischen Leistungen in Haft zuständig sind. Eine Wiederaufnahme in die GKV ist nach Haftende nicht immer gegeben. Von einem Schutz eines*r jeden Bürger*in im Krankheitsfall, wie es die Versicherungsplicht nach § 5 SGB V vorsieht kann in diesem Zuge wohl kaum noch die Rede sein. Entlassene Menschen müssen für medizinische Leistungen ggf. in Vorkasse treten. Ebenso kann es zu einem Bruch in der Behandlung durch das Haftende kommen, da eine verlässliche Informationsweitergabe nicht gewährleistet ist.

Wir fordern:

Wir fordern eine grundlegende Umstrukturierung des Strafsystems. Im bestehenden System muss mit drängender Notwendigkeit Folgendes umgesetzt werden.

  • Bedarfsgerechte medizinische Versorgung entsprechend dem Äquivalenzprinzip!
    Medizinische Versorgung ist ein Menschenrecht – auch in Haft muss eine leitliniengerechte, evidenzbasierte und patient*innenzentrierte Versorgung erfolgen!
  • Flächendeckende Gesundheitsberichterstattung – nur so kann eine ausreichende Versorgung kontrolliert werden und strukturelle Probleme aufgezeigt werden
  • Ein einheitliches Curriculum und spezifische Aus- und Weiterbildungen für medizinisches Personal im Gefängnis, u.a. für Anstaltsärzt*innen
  • Durchführung der medizinischen Versorgung nur durch geschultes und sensibilisiertes medizinisches Personal
  • Schnellen und einfachen Zugang zu professioneller Sprachmittlung
  • Ein strukturiertes Entlassungsmanagement welches die Wiederaufnahme in die Krankenversicherung sicherstellt und eine lückenlose medizinische Versorgung gewährleistet
  • Die Ärzt*innen-Patient*innen- Beziehung muss auf Vertrauen basieren. Dazu ist es essenziell, dass so weitgehend wie möglich eine freie Ärzt*innenwahl sichergestellt wird. Behandelnde Ärzt*innen dürfen keine Vollzugsaufgaben übernehmen, damit diese in keinen Interessenskonflikt zwischen Justiz und ihren Patient*innen stehen. Es gilt zudem bundesweit Beschwerdemöglichkeiten mit entsprechendem Konsequenzen-Management einzurichten.
  • Umsetzung von infektiologischen Präventionsmaßnahmen: u.a. Zugang zu Nadelaustauschprogramme, Versorgung mit Kondomen und Bereitstellung von hygienischem Tätowierbesteck
  • Implementierung geregelter Substitutionsprogramme um drogengebrauchenden Inhaftierten den Zugang zu einer adäquaten Substitution sowie zur unterstützenden Psychotherapie zu ermöglichen
  • Der Strafgedanke darf keinen Anteil an der medizinischen Versorgung inhaftierter Personen haben!

Quellen/Verweise:

 

Palliativmedizin in deutschen Gefängnissen: Für ein menschenwürdiges Sterben hinter Gittern!

Der Status quo der Palliativmedizin in deutschen Gefängnissen ist alarmierend. Die Zahl der Menschen, gegen die eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wurde, hat sich innerhalb der letzten fünfzehn Jahre verdoppelt. Hinzu kommt, dass unsere Gesellschaft immer älter wird und folglich auch Inhaftierte immer älter und pflegebedürftiger werden – und doch bleiben sie haftfähig. Doch auf all die alten und kranken Menschen in der Endphase ihres Lebens ist der Vollzug nicht eingestellt.

Obwohl es das Recht auf angemessene medizinische Versorgung für alle Menschen gilt, gibt es nach wie vor erhebliche Defizite in der Betreuung schwerkranker Inhaftierter. Der Zugang zu qualifizierten Palliativexpert*innen, speziellen Einrichtungen und schmerzlindernden Maßnahmen ist unzureichend. Oft werden Gefangene mit fortschreitenden Krankheiten isoliert und ihrem Schicksal überlassen, ohne die erforderliche Unterstützung und Fürsorge zu erhalten. Wenn wir es ernst nehmen, dass jeder Mensch das Recht auf ein würdevolles Sterben hat, müssen wir uns die Frage stellen, ob dies innerhalb der Gefängnismauern überhaupt möglich ist.

Doch was bedeutet würdevolles Sterben überhaupt? „Menschenwürdig sterben ist, wenn man in Freiheit und in Frieden sterben kann.“, so Prof. Dr. Rüdiger Wulf, Ministerialrat im Justizministerium Baden-Württemberg. (1) Dabei sollte die Menschenwürde für alle und uneingeschränkt auch für Gefangene gelten. Also auch dann, wenn der Mensch seine Freiheit für Straftaten missbraucht. Jedoch lassen die gegenwärtigen Umstände eher darauf schließen, dass sterbende Inhaftierte Personen als Objekte staatlicher Behandlung angesehen werden:

→ Inhaftierte haben keine Entscheidungsfreiheit über den Ort ihres Sterbens. Oftmals müssen sie im Gefängnis oder im Vollzugskrankenhaus sterben.

→ Es besteht keine freie Ärzt*innenwahl.

→ Inhaftierte haben keinen Anspruch auf die Anwesenheit der ihnen nahestehenden Personen während ihres Lebensendes.

Laut Bundeszentrale für politische Bildung besteht eine der Hauptaufgaben des Vollzugs in der Resozialisierung der Gefangenen. In § 2 des Strafgesetzbuches ist als Vollzugsziel festgehalten: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“ (2)

Doch rechtfertigt der Strafzweck des Resozialisierens ein Sterben im Vollzug? Nein, findet der auf Strafrecht spezialisierte Passauer Anwalt Bruno Fuhs: „Wo wollen Sie denn einen 70- Jährigen hinresozialisieren? Ab einem bestimmten Alter ist es reine Verwahrung.“ (1)

Kritikpunkte gibt es viele. Die Konzeption einer Sterbebegleitung inhaftierter Personen steht nur in geringem Einklang mit den gegenwärtigen Abläufen und Strukturen des Strafvollzugs.

Vor allem fehlt es an ausreichend geschultem Personal, das sich auf die Betreuung sterbender Gefangener spezialisiert hat. Palliativmedizin erfordert eine besondere Expertise, um Schmerzen zu lindern, psychische Unterstützung zu bieten und die Würde der sterbenden Person zu wahren. Doch in vielen Gefängnissen fehlt es an Ärzt*innen, Pflegekräften und Seelsorger*innen, die über das notwendige Wissen und die Erfahrung in der palliativen Versorgung verfügen.

Außerdem müssen die Ressourcen für palliative Maßnahmen in Gefängnissen dringend verbessert werden. Angemessene Einrichtungen und Ausstattung sowie der Zugang zu spezialisierten Medikamenten und Hilfsmitteln sind unverzichtbar, um den sterbenden Inhaftierten ein würdiges und schmerzfreies Ende zu ermöglichen. Die aktuelle Unterfinanzierung und der Mangel an Investitionen in die Palliativversorgung in Gefängnissen sind inakzeptabel.

Aktuell muss noch ein erheblicher administrativer Aufwand unternommen werden, um zu gewährleisten, dass inhaftierte Betroffene jenseits des Gefängnisses einen menschenwürdigen Sterbeprozess erfahren können. Oftmals kommt es zu anschließenden Schwierigkeiten mit dem zu bestimmenden Kostenträger. (1) Der Bericht „Wir haben hier doch alles im Griff“ eines Sterbenskranken aus der JVA Tegel, erschienen in der Ausgabe der Gefangenenzeitung „Der Lichtblick“ im März 2016, zeigt als Beispiel den schwierigen Weg zu einem gerechten Zugang zu einer würdevollen Versorgung am Lebensende: „Nur durch [solche] Kontakte ist es überhaupt möglich, sich draußen Gehör zu verschaffen, ohne sang und klanglos im Justizapparat zu verschwinden. Im rein medizinischen Bereich ist es schon wahnsinnig schwer voranzukommen, eine zweite Hürde ist die Justiz als solche. Obwohl alle behandelnden Fachärzte einheitlich davon ausgehen, dass die restliche Lebenserwartung mehr als begrenzt ist, gelte ich als haftfähig. Ein Gnadengesuch, ja sogar eine zeitlich begrenzte Haftunterbrechung wurden mit ein, zwei nichtssagenden Sätzen abgelehnt […]“. (3)

Quellen