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Medizin und Knast

Straf- und Gefängniskritik

TW: In diesem Text geht es um staatliche Gewalt, Strafvollzug in Deutschland, Armut, Leben ohne festen Wohnsitz und Rassismus.

Abolitionismus und alternative Konzepte

Freiheitsstrafe als die scheinbar logische Konsequenz von Straffälligkeit besonderer Schwere – dieses Konzept ist die etablierte gesellschaftliche Sichtweise. Die Zeit in Haft soll Personen für ihre Strafdelikte bestrafen, eine Art Gerechtigkeit wiederherstellen, die Gesellschaft schützen, abschreckenden Charakter aufweisen und – als von den Justizvollzugsanstalten ausgewiesenes Hauptziel – zur Resozialisierung Inhaftierter dienen.

So normal wie vielen dieser Bestrafungsansatz wohl erscheint, so wenig wird er hinterfragt. Machen Gefängnisse unsere Gesellschaft wirklich sicherer? Bietet das vorherrschende Strafkonzept ehemaligen Inhaftierten die Möglichkeit nach Entlassung ein selbstbestimmtes Leben ohne Straffälligkeit zu führen?

Im Jahr 2022 waren 42.492 Menschen in Deutschland inhaftiert; die meisten davon im geschlossenen Vollzug (1). Mindestens jede dritte Person davon wird statistisch gesehen in den ersten drei Jahren nach Entlassung erneut straffällig (2). Resozialisierungs- und Präventionserfolge von Haftstrafen scheinen auszubleiben, das momentane Verfahren erweist sich als fraglich (3). Strafromantik ist jedoch tief in unserer Gesellschaft verankert und wird von Medien und in allgemeinen politischen Diskursen reproduziert – es braucht also keine Fakten oder Beweise mehr, damit an die Richtigkeit und Gerechtigkeit der Strafe geglaubt wird.

Zusätzlich wird ein Bild von Gefängnis und Straftäter*innen gezeichnet, das nicht realistisch ist: Hauptsächlich sitzen Menschen z.B. wegen Ersatzfreiheitsstrafen, Drogen- oder Eigentumsdelikten im Gefängnis und nicht Personen, vor denen die Gesellschaft vermeintlich geschützt werden muss.

In Haft wird den Gefangenen jegliche Autonomie genommen, ihr Tagesablauf ist strikt vorgegeben und selbstständige Alltagsorganisation ist nicht möglich. Die Inhaftierten sind struktureller und permanenter Bevormundung und Repression ausgesetzt (4). Haftstrafen können überdies die wirtschaftliche und soziale Existenz der Gefangenen zerstören. Sie verlieren häufig ihre Arbeitsstelle, Verfahrenskosten müssen von den Inhaftierten selbst getragen werden. Zusätzlich sind sie starker Stigmatisierung ausgesetzt, die soziale Beziehungen, die mit eingeschränkten Besuchszeiten und -möglichkeiten ohnehin einer besonderen Belastung ausgesetzt sind, nachhaltig schaden können.

Selbst vergleichsweise kurze Haftstrafen, wie im Rahmen der Ersatzfreiheitsstrafen, bringen Ausschluss aus vorher bestehenden sozialen Kreisen auch über die Zeit der Haftstrafe hinaus mit sich. Besonders gravierend ist die Situation laut einer Studie für Frauen. Sie sind sozialer Ausgrenzung durch Haft stärker ausgesetzt, Lebenspartner trennen sich nach der Haft häufiger von ihnen, als es bei Männern der Fall ist, und die Trennung von eventuellen Kindern belastet sie intensiver (5). Diese Studie wurde binär und heteronormativ durchgeführt. Sie zeigt nicht, dass die Realität in Haft komplexer ist, es mehr Geschlechter als männlich und weiblich gibt und viele Menschen nicht heteronormativ lieben. Diese Personen sind noch stärker von sozialer Ausgrenzung betroffen.

In Anbetracht der fehlenden Wirksamkeit bezüglich Prävention und Resozialisierung des bestehenden Strafsystems und da viele der heutigen Gesetze, Straf- und Einsperrpraktiken sowie die Polizei ihre Wurzeln in Kolonialismus, Sklaverei und in Deutschland im Faschismus haben wird die Notwendigkeit von Alternativkonzepten deutlich. Das staatliche Rechtssystem ist eng an Knast und Polizei gekoppelt – es funktioniert nicht ohne Zwangsgewalt, die es durchsetzt. So muss eine Kritik am Gefängnissystem auch Polizei und Gerichte mitdenken.

Das Konzept des Abolitionismus (lat. abolitio: “Abschaffung”, “ Aufhebung”) kommt aus dem 19. Jahrhundert und wurde in den USA und der Karibik im Rahmen der Bewegung gegen Sklaverei entwickelt. Die Grundidee lässt sich jedoch noch wesentlich früher auf die Haitianische Revolution 1791 zurückverfolgen. Diskriminierung aufgrund soziokultureller Zugehörigkeit ist ein omnipräsentes gesellschaftliches Problem, das sich im Kontext von machtausübenden Institutionen, in Hierarchien und (staatlicher) Gewaltausübung besonders zeigt. Zum Beispiel Schwarze, wohnungslose und drogenabhängige Menschen oder Sexarbeiter*innen, die gesellschaftlich und strukturell marginalisiert werden, sind besonderns von Polizeikontrollen, Kriminalisierung und Knast betroffen. Sie sind von der Gemeinschaft, die durch Polizei und Staat geschützt werden soll, ausgeschlossen und nicht mitgemeint, wenn von Sicherheit gesprochen wird. Durch die Marginalisierung und häufig weniger verfügbare Ressourcen finden die Persepktiven dieser Personen gesellschaftlich keinen Platz.

Daher benennt der Abolitionismus die Implementierung einer Gesellschaftsordnung ohne Ausbeutung und Gewalt als Ziel, ergo lehnt Institutionen, wie die Polizei, sowie das Konzept von Freiheitsberaubung, beispielsweise in Form von Gefängnissen, ab. Da diese Problematik struktureller Natur ist, fordert der Abolitionismus eine Adressierung der Gewaltursachen anstelle der Symptome. In einer Gesellschaft, in der soziale und ökonomische Gerechtigkeit herrscht, würde viel von dem, was wir als Kriminalität verstehen, wegfallen. Nicht nur basiert viel Kriminalisierung auf Eigentum – mehr soziale Absicherung und weniger Ungleichheit würden auch Gewalt reduzieren.

Es gibt jedoch bereits einige Konzepte, die die Ursachen von Gewalt betrachten, den angesprochenen Problematiken begegnen und die teilweise bereits praktisch umgesetzt werden. Ein Ansatz der praktischen Umsetzung von Ideen des Abolitionismus ist die der transformativen Gerechtigkeit. Hierbei soll zum Einen die von Gewalt betroffene Person Unterstützung erfahren und gleichzeitig mit der gewaltausübenden Person gearbeitet werden. Wichtig ist dabei, verschiedene Aspekte des alltäglichen Lebens, wie die häuslichen Strukturen einer Person, Diskriminierung, oder Gesundheitsversorgung, miteinzubeziehen. Dabei ist das Ziel nicht die Utopie einer völlig gewaltlosen Gesellschaft. Stattdessen geht es darum, darüber zu sprechen, dass Gewalt ein Teil unseres Zusammenlebens ist, der sich nicht einfach wegsperren lässt. Der Ansatz bietet einen Weg, Gewalt zu begegnen und sie in der Gesellschaft zu reduzieren (6).

In Norwegen findet das Konzept der “restorative justice” nach Howard Zehr auf freiwilliger Basis Anwendung. Dort gibt es die Möglichkeit für in Konflikt geratene Personen, Mediationen, durchgeführt von Freiwilligen des National Mediation Service, in Anspruch zu nehmen, die Auswirkungen auf den richterlichen Umgang mit dem Strafverfahren haben.

Straftaten werden demnach als Schaden an Menschen und Gemeinschaft anstelle von Konflikten mit “Recht und Ordnung” im Sinne von Gesetzen eines staatlichen Systems gesehen. Der Anspruch ist, kollektiv auf Verletzungen der Gemeinschaft einzugehen und das Ziel einer möglichst großen Gerechtigkeit und guten Gemeinschaft zu verfolgen.

Der National Mediation Service ist dem Department of Civil affairs untergeordnet und ist zuständig für die Organisation und Trainings der freiwilligen Mediator*innen. Die Mediator*innengruppe einer Community soll möglichst divers besetzt sein.
Den freiwilligen Mediationen gehen vorbereitende Gespräche voraus, sodass in der Mediation ein begleiteter Dialog zwischen Täter*innen und Opfern mit Empathie für beide Seiten und der Motivation, Verständnis, Reintegration von Opfern und Täter*innen entsteht um eventuell Verhaltensänderung zu erzielen.
Eine Mediation kann mit einer von allen Seiten unterschriebenen Einigung abgeschlossen werden. Bei erfolgreicher Mediation wird der Fall gerichtlich nur wieder aufgenommen, sollte es zu signifikanten Verletzungen der Einigung kommen. Bei erfolgreicher Mediation ohne Verletzung der Einigung kommt es zu keiner Aufnahme in das Strafregister (7).

Trotz vorhandener Ansätzen von ‘transformative’ und ‘restorative justice’ wird in Deutschland weiterhin an dem derzeitigen Straf- und Gefängnissystem festgehalten. Die Zahlen zeigen, dass der Knast die Lebenssituation der Gefangenen verschlechtert, anstatt Konzepte der Resozialisierung zu verfolgen. Das System, welches Gleichheit und Gerechtigkeit schaffen soll, ist nicht gerecht. Es diskriminiert Menschen, die bereits von Diskriminierung betroffen sind. Eine Verbesserung der derzeitigen Situation scheint aufgrund von fehlendem Interesse Seitens der Politik beinahe utopisch. Doch wenn es Gerechtigkeit geben soll, ist es unausweichlich, sich weiter mit den Ideen zu beschäftigen, die es schon so lange gibt, sie weiter zu denken und für sie zu kämpfen.

Ersatzfreiheitsstrafen: Klassenjustiz in Deutschland?

Während „Spitzenmanager“ wie Ex-Audi-Vorstandschef Ruper Stadler nach Geständnissen zu Betrug in Milliardenhöhe zu Geld- und Bewährungsstrafen verurteilt werden (1), liegt der Anteil der Menschen, die gemäß §43 des StGB aufgrund einer Ersatzfreiheitsstrafe im Gefängnis sitzen, bei 11% (Stand Juni 2022) (2). Das heißt, dass aktuell weit über 4000 Menschen ihre Freiheit entzogen wird, weil sie nicht in der finanziellen Lage sind, Geldstrafen für Bagatelldelikte – wie beispielsweise Fahren ohne gültigen Fahrschein – zu bezahlen.

Geldstrafen werden in Deutschland nach Tagessätzen berechnet, wobei ein Tagessatz einem Dreißigstel des monatlichen Nettoeinkommens entspricht – das soll für eine vermeintliche Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Einkommensschichten sorgen. Vermeintlich, weil die Einschränkungen, die mit beispielsweise 15 Tagessätzen – also einem
halben Monatseinkommen – einhergehen, für Menschen, die an oder unter der Armutsgrenze leben, viel existenzieller sind, als für Menschen mit mittlerem oder hohem Einkommen. Ist eine Geldstrafe „uneinbringlich“, tritt an ihre Stelle die Ersatzfreiheitsstrafe. Je nach Höhe der ursprünglich auferlegten Tagessätze kann sie zwischen einem und maximal 360 Tagen betragen. Bis Juni 2023 entsprach ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe einem Tagessatz. Das wurde nun durch eine Reform des Strafrechts verändert, sodass ein Tag Haft zwei Tagessätzen entspricht (3). Diese Reform verändert jedoch nichts an dem Prinzip der Ersatzfreiheitsstrafe und den Problemen, die damit einhergehen.
Dass eine Haftstrafe nicht dazu beiträgt, dass sich Menschen, die häufig durch Armut und/oder Suchterkrankungen in die Straffälligkeit getrieben wurden, aus ihren prekären Lebenssituationen befreien, ist offensichtlich.
Isolierung von familiären Strukturen und engen Bezugspersonen, sowie Stigmatisierung während und nach der Haft, führen zur weiteren gesellschaftlichen Ausgrenzung (4). 2020 lagen die durchschnittlichen Kosten für einen Tag in Haft bei 157,72€ – ein Vielfaches
des durchschnittlichen Tagessatzes der von Ersatzfreiheitsstrafe betroffenen Menschen (5). So entstehen jährliche Mehrkosten von über 200 Millionen € (Tendenz steigend) – nur 130.000€ werden jährlich hingegen aufgewendet, um Projekte zur Vermeidung von
Ersatzfreiheitsstrafen zu unterstützen (6).
Forderungen nach einer Entkriminalisierung von Bagatelldelikten wie das „Erschleichen von Leistungen“ (§265a StGB), beispielsweise Fahren ohne gültigen Fahrausweis, angebracht von der Bundesfraktion der Linken, blieben bislang erfolglos.

Durch die im Juni 2023 beschlossene Strafrechtsreform soll es, neben dem veränderten Umrechnungsfaktor von Tagessätzen und Tagen in Haft, von Ersatzfreiheitsstrafen betroffenen Menschen einfacher gemacht werden, ihre Strafe durch gemeinnützige Arbeit anstelle von Haft zu absolvieren. Nichtsdestotrotz bleibt Armut und daraus resultierende Straffälligkeit ein Teufelskreis, an dessen Ende Menschen für ihre Armut bestraft werden.
Dies ist ein Symptom des kapitalistischen Systems, in dem auch vor dem Gesetz nicht alle gleich sind.

Quellen

Quellen Abolitionismus und alternative Konzepte

[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/haftbedingungen-in-deutschland-haft-ist-nicht-gleich-haft-1.3117627

[2] https://www.bmj.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Legalbewaehrung_strafrechtliche_Sanktionen_Kurzbroschuere.pdf?__blob=publicationFile&v=8

[3] https://taz.de/Sinn-und-Unsinn-von-Gefaengnissen/!5723494/

[4] Klaus Roggenthin: Das Gefängnis ist unverzichtbar! Wirklich?

[5] https://www.jura.fu-berlin.de/fachbereich/einrichtungen/strafrecht/lehrende/morgensternc/blog-sq-feministischeperspektivenaufrechtstheorieundpraxis/_Bestraft-fuers-Armsein__-_-Die-Kontroverse-um-die-Ersatzfreiheitsstrafe/index.html

[6] https://www.deutschlandfunkkultur.de/philosophie-des-abolitionismus-gewalt-nicht-mit-gewalt-100.html

[7] https://violenceagainstchildren.un.org/sites/violenceagainstchildren.un.org/files/expert_consultations/stranghtening_communities/field_visit_presentationkaren_kristin_paus_mediation_service.pdf

Quellen Ersatzfreiheitsstrafe

6 https://dserver.bundestag.de/btd/20/015/2001568.pdf; 07.07.2023. 14 Uhr
5 https://dserver.bundestag.de/btd/20/015/2001568.pdf; 07.07.2023. 14 Uhr
4 https://www.jura.fu-berlin.de/fachbereich/einrichtungen/strafrecht/lehrende/morgensternc/blog-sq-feministischeperspektivenaufrechtstheorieundpraxis/_Bestraft-fuers-Armsein__-_-Die-Kontroverse-um-die-Ersatzfreiheitsstrafe/index.html#_ftn5; 07.07,2023 14 Uhr
3 https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/geldstrafen-freiheitsstrafen-100.html; 07.07.2023
2 Statistisches Bundesamt; 07.07.2023 11:00 Uhr
1 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/audi-stadler-landgericht-urteil-diesel-skandal-100.html;
07.07.2023 11:58 Uhr